Die Genfer holen im Berner Wankdorf gegen den FC Lugano den ersten Titel seit 2001. Die Entscheidung fällt nach 24 Elfmetern. Hinterher kündigt René Weiler an, dass er als Servette-Coach aufhört. Er dürfte Sportdirektor werden.
Von diesem lateinisch geprägten Cup-Final würde nicht viel in Erinnerung bleiben, nähme das dramatische Elfmeterschiessen nicht einen solch historischen Verlauf. Nach einer fussballerischen Ewigkeit, nach zig Tor- und je drei Fehlschüssen auf beiden Seiten entscheidet am Ende der 24. Penalty den Schweizer Cup-Final.
Als wäre der Unterhaltung noch nicht genug, müssen die Genfer ihrem Jubel-Sturmlauf kurz Einhalt gebieten, weil das Verdikt des Videoschiedsrichters noch ein paar Sekunden auf sich warten lässt, nachdem der Servette-Goalie Joël Mall den Ball abgewehrt hat. Doch dann brechen die emotionalen Dämme. Erstmals seit 2001 wird der lange in Untiefen darbende Servette FC wieder Cup-Sieger.
Dabei hätte der 36-jährige Jonathan Sabbatini seine lange Karriere im FC Lugano krönen können. Doch er schiesst den Ball über das Tor. Auch der Nationalspieler Renato Steffen nimmt Anlauf zum möglichen Siegtor, aber Mall hält. Der Goalie wird kurz vor Ablauf der Verlängerung eigens für das Penaltyschiessen eingewechselt, pariert in der letzten Spielminute prompt noch einen Ball – und wird anschliessend auch deshalb zum Elfmeterschreck, weil er nach je 10 Versuchen wie sein Antipode Amir Saipi selbst zum (erfolgreichen) Fussballer wird.
Der Wechsel auf der Goalie-Position ist nicht vorgesehen. Der Servette-Trainer René Weiler entscheidet sich laut eigenen Angaben intuitiv und «ohne Vorankündigung im Team» dafür.
Der Match enttäuscht fast auf der ganzen Linie
Was für ein Final, ist man zu schreiben geneigt. Ja, das Penaltyschiessen hat alles in sich und ist so kaum zu übertreffen. Aber das täuscht über einen erstaunlich schwachen Cup-Final-Nachmittag hinweg, über einen Match, der zwar intensiv und hektisch ist, aber spielerisch fast auf der ganzen Linie enttäuscht. Keine Tore, wenig Torchancen, kein Spielfluss, viele Fouls, Unterbrechungen, Ballverluste en masse, Flanken ins Nirgendwo, kein Wellengang. Ist es der ungeliebte Kunstrasen? Teilweise. Aber sicher nicht nur.
Keine Geschichte. Bis zum ausufernden Penalty-Epilog.
In Bern stehen sich mit dem FC Lugano und dem Servette FC immerhin die Nummern 2 und 3 des Schweizer Klubfussballs gegenüber. Doch der Anlass wirkt von Beginn weg überladen, zu überdreht, zu überhastet. Auf solche Spiele wird jeweils Bedeutung projiziert, die schwerer fast nicht sein könnte. Man steht füreinander ein «bis zum Tod» oder ist soeben der «Hölle» entronnen. Kommt dazu, dass die Speaker die Namen der Spieler in der jeweiligen Landessprache derart ins Mikrofon schreien, als würde demnächst die kleine Cup-Welt explodieren.
Die Stimmung ist aufgeladen. Über 27 700 sind im nicht ausverkauften Wankdorf-Stadion. Der vom Tessiner Volk sonst im Stich gelassene FC Lugano begrüsst bei sich zu Hause in einer ganzen Saison summiert etwas mehr als doppelt so viele (60 000). Der Cup-Final ist ein einsamer Feiertag des Tessiner Fussballs, eine Art Selbstvergewisserung. Lugano spielt den dritten Cup-Final in Folge und verliert ihn, wie vor Jahresfrist gegen YB.
Im Final lebt der Tessiner Fussball
Plötzlich sind 10 000 Personen da, die hinter dem FC Lugano stehen, wie aus dem Nichts, für das Hier und Jetzt. Einmal im Jahr. Aber es wird nicht der Match des Renato Steffen, auch nicht derjenige des früh ausgewechselten Slowenen Zan Celar, der das Torschützenklassement der Super League mit 14 Toren gewonnen hat, auf gleicher Stufe wie Kevin Carlos (Yverdon) und Chadrac Akolo (St. Gallen). Niemand spielt sich in diesem bisweilen wirren Geschehen in den Vordergrund. Bis zu den erwähnten Gänsehaut-Minuten mit den Elfmetern.
Während der FC Lugano nach dem finalen Drama in sich zusammensackt, krönen die Genfer eine Saison, die sie bis in die Achtelfinals der Conference League, in die Nähe der Spitze des Schweizer Fussballs und in den Cup-Final geführt hat. Das ist viel für eine Sportorganisation, die darüber hinaus auch im Rugby, Frauenfussball (Double) und Eishockey (Meistertitel 2023, Champions-League-Sieg 2024) Erfolge vorzuweisen hat.
Selbst wenn in der Führung der Fussballabteilung die Wechsel auch in dieser Saison ungewöhnlich zahlreich sind, steht das von der Rolex-Stiftung gelegte Fundament solid.
Aber wie die Tessiner ringen auch die Genfer um Support. Zumindest national. Der Publikumsrückgang von 8400 auf 7800 Personen pro Heimspiel ist (auch) auf wegen Fanausschreitungen gesperrte Fansektoren zurückzuführen. Auf der anderen Seite mobilisierte der Servette FC im Europacup gegen Widersacher wie Genk, Glasgow Rangers, Slavia Prag, Sheriff Tiraspol, die AS Roma, Ludogorets Rasgrad und Viktoria Pilsen im Schnitt 20 000 Zuschauer.
René Weiler steigt wohl zum Sportdirektor auf
Das Penaltyschiessen bleibt an diesem Sonntag nicht die einzige dramaturgische Überraschung. Denn kaum ist das Spiel vorbei und der Genfer Erfolg Faktum, kündigt der Servette-Trainer René Weiler vor der Fernsehkamera an, dass er zwar in Genf bleiben werde, nicht aber als Trainer. Das überrascht. Weiler arbeitet erst seit einem Jahr in Genf, tut dies erfolgreich, hat sich aber verschiedentlich dahingehend geäussert, dass die Administration und die Struktur des Vereins Mängel hätten.
An der Medienkonferenz bestätigt er die Veränderung. Details seien noch nicht geklärt, aber er werde im Umfeld der 1. Mannschaft eine neue Aufgabe übernehmen. Weiler dürfte in Genf so etwas wie Sportdirektor werden und mehr Macht auf sich vereinen. Er wolle dem Klub «helfen», YB mehr herauszufordern – «Servette muss um den Titel spielen können, aber das wird nicht einfach». Weiler setzt mit seinem Rollenwechsel die Schlusspointe hinter eine Schweizer Fussballsaison, die von etlichen Trainerwechseln geprägt ist.
Jetzt sucht auch der Cup-Sieger einen neuen Coach. Das bleibt nach diesem Final haften. Wie das Elfmeterschiessen, das Weiler so «noch nie erlebt» hat.