Israel wollte die Zeichen für den Grossangriff der palästinensischen Terrororganisation nicht sehen – und zahlt dafür bis heute einen hohen Preis. Die israelische Gesellschaft ist gespalten, und das Land führt einen Mehrfrontenkrieg, dessen Ende nicht absehbar ist.
«Der 7. Oktober war so traumatisch», sagt die junge Israelin Lia am Sonntagmittag in Tel Aviv. Die Mutter ihrer besten Freundin wurde an jenem Tag von der Hamas im Kibbuz Beeri ermordet. «Und ich hätte nie gedacht, dass ein Jahr später alles noch schlimmer ist.»
Fast ein Jahr nach Kriegsbeginn steigt am Sonntagnachmittag immer noch Rauch über dem Gazastreifen auf. Fast ein Jahr nach dem Massaker der Hamas sind die Wunden in Israel immer noch nicht verheilt.
Am Montag begeht das Land den Jahrestag des schlimmsten Massakers an jüdischen Menschen seit dem Holocaust. Im Morgengrauen werden Angehörige auf dem Gelände des Nova-Festivals an die Getöteten und Entführten erinnern, am Nachmittag findet eine Gedenkveranstaltung der Geiselangehörigen in Tel Aviv statt. Diese wurde als Alternative zur offiziellen Zeremonie der Regierung ins Leben gerufen – die auf laute Kritik und Ablehnung gestossen ist.
Die mit der Organisation beauftragte Verkehrsministerin Miri Regev hatte es nicht für nötig befunden, die am 7. Oktober von der Hamas angegriffenen Gemeinden überhaupt anzuhören. Ein Jahr nach dem schlimmsten Überraschungsangriff in der Geschichte des Staates sind die Gräben in der israelischen Gesellschaft tiefer denn je – und Israel kämpft an weitaus mehr Fronten, als am 7. Oktober abzusehen war.
Israel wollte die Zeichen nicht sehen
Begonnen hat alles vor einem Jahr, als um 6 Uhr 29 Tausende Terroristen der Hamas auf Pick-up-Trucks, Motorrädern und zu Fuss den Hightech-Grenzzaun überwanden – ein Szenario, das für die israelischen Sicherheitsdienste unvorstellbar war.
Am Sonntagmorgen führte die israelische Armee ausländischen Journalisten die seit Kriegsbeginn von der Hamas erbeuteten Waffen vor. Die «Ausstellung über beschlagnahmtes feindliches Militärgerät» machte klar, wie alt und primitiv die Waffen waren, mit denen die Hamas Israel diesen schwersten Schlag seit seiner Staatsgründung zufügen konnte.
In dem kleinen Raum in der Militärbasis, wenige Kilometer von Tel Aviv entfernt, liegen auf langen Tischen Kalaschnikows aus russischer und Scharfschützengewehre aus iranischer Produktion. Draussen stehen die nun zerstörten, alten Geländewagen, mit denen die Terroristen tief in israelisches Territorium vorstossen konnten.
Die Ausstellung dokumentiert die massive Aufrüstung und die Entschlossenheit der Islamisten aus Gaza, in den «heiligen Krieg» gegen Israel zu ziehen. Und sie ist ein Zeugnis der israelischen Hybris, die zur Katastrophe des 7. Oktober geführt hat. Denn es gab klare Anzeichen dafür, aber Israel wollte sie nicht erkennen.
Der israelische Offizier vor Ort zeigt ein viereckiges Stahlgestell, das die Terroristen am 7. Oktober mit Sprengstoff versahen. «Bei den Demonstrationen, die Monate vor dem Angriff am Grenzzaun stattfanden, konnte die Hamas die exakten Masse für einen Pfahl des Zauns nehmen, damit dieses Stahlgestell passt», sagt Oberstleutnant Idan Sharon-Kettler. «Der 7. Oktober konnte auch geschehen wegen Informationen, die Israel zwar besass, aber nicht verstand», fügt der Armeesprecher Nadav Shoshani hinzu.
Ein israelischer Angriff auf Iran steht noch aus
Schon jetzt ist der Krieg, der am 7. Oktober begann, Israels längster Waffengang seit 1948 – und es ist kein Ende in Sicht. Am Sonntag teilte die Armee mit, dass eine israelische Division nun wieder im nördlichen Gazastreifen operiere, da sich die Hamas dort neu zu gruppieren versuche. Bei einem israelischen Luftangriff auf eine als Notunterkunft genutzte Moschee im Gazastreifen sind nach palästinensischen Angaben am Sonntag 26 Menschen getötet worden.
Zudem setzt Israel seine Bodenoperation in Libanon fort – die das Militär weiterhin als «begrenzt» bezeichnet. Menschen in 25 Gebieten im Süden des Landes wurden zur Evakuierung aufgefordert. Samstagnacht und Sonntagmorgen erschütterten heftige Explosionen durch israelische Luftangriffe die libanesische Hauptstadt Beirut. Ziel sollen Hizbullah-Stellungen gewesen sein.
Der Flächenbrand in Nahost, den vor allem die USA seit Beginn des Gazakriegs vermeiden wollten, ist längst Realität. Zumal Israel nicht nur im Gazastreifen und in Libanon kämpft, sondern kurz vor einem grossen Krieg mit der Regionalmacht Iran steht.
Der Gegenschlag für Irans massiven Raketenangriff am vergangenen Dienstag steht noch aus. An die Adresse Teherans sagte Verteidigungsminister Yoav Gallant am Sonntag: «Wer glaubt, dass ein versuchter Angriff auf Israel uns davon abhalten wird zu reagieren, sollte sich ansehen, was im Gazastreifen und in Beirut passiert.»