In Japan steigt das Bewusstsein für sexuelle Gewalt. Das zeigt die Entrüstung über den Fall eines ehemaligen Abgeordneten, der ein Kind für Sex bezahlte und mit einer Bewährungsstrafe davonkam.
In Japan wird immer offener über Sexualverbrechen diskutiert. Jüngster Anlass war eine Bewährungsstrafe für den ehemaligen Parlamentsabgeordneten Tamotsu Shiiki wegen der Vergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens. Der Sachverhalt war nicht umstritten, aber das Strafmass.
Der frühere Lehrer Shiiki hatte das Mädchen im August 2024 im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho angesprochen, um mit ihr gegen Bezahlung Sex zu haben. Die Angestellten des Karaoke-Lokals, wo er sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte, riefen schliesslich die Polizei.
Das Bezirksgericht Tokio verurteilte den 58-Jährigen nun am Montag wegen nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen zu drei Jahren Haft, die allerdings für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden. In der Begründung wurde ein umstrittenes Merkmal der japanischen Rechtsprechung deutlich, mitunter Reue vor Recht gehen zu lassen.
Die Vorsitzende Richterin, Chikako Murata, erklärte zwar, Shiiki habe ein «abscheuliches Verbrechen» begangen und die Verletzlichkeit eines Kindes ausgenutzt. Doch dann erklärte sie, warum das Gericht eine Bewährungsstrafe für angemessen hielt. Shiiki habe sich bereits entschuldigt und eine Entschädigung gezahlt.
Japans Justiz gerät in die Kritik
Das war eine Schlappe für die Staatsanwaltschaft, die immerhin fünf Jahre Haft ohne Bewährung gefordert hatte. Auch die Kommentare der Bürger auf der Plattform X zeigten Enttäuschung. Japans Justiz sei zusammengebrochen, kommentierte die Nutzerlin Reika8833 das Urteil.
Der Nutzer Okizo4649 forderte eine sofortige Gefängnisstrafe ein. Ob er eine Sonderbehandlung bekommen habe, weil er Abgeordneter der rechten Oppositionspartei Japanische Erneuerungspartei war, fragt er.
«Das Urteil spiegelt das bekannte Kalkül der japanischen Justiz wider», sagt Jake Adelstein, der Autor des Buches «Tokyo Vice». Adelstein hat jahrelang als Reporter in der Unterwelt Japans recherchiert für die japanische Zeitung «Yomiuri».
Laut Adelstein verbüssen Männer von Rang nur dann eine Haftstrafe, wenn ihre Schuld unbestreitbar ist und ihre Tat die gesellschaftliche Ordnung massiv stört. Shiiki reiht sich damit ein in die lange Liste mächtiger Männer, die mit Entschuldigungen und Entschädigungszahlungen in den Augen der Justiz Gerechtigkeit schaffen.
Zeigt Japans «wohlwollender Paternalismus» zu viel Milde?
Der Jurist David Johnson kritisierte Japans Umgang mit Vergewaltigung und anderen Sexualdelikten kürzlich in einer Studie. Dabei ging es ihm weniger um die oft mangelnde Bereitschaft der Polizei, Hinweisen nachzugehen, als vielmehr um die juristische Aufarbeitung. Sein Urteil: «Vergewaltigung wird anders behandelt als andere Gewaltverbrechen, und das ohne guten Grund.»
Das zeigt auch ein anderer bekannter Fall aus dem Jahr 2023: Die Soldatin Rina Gonoi zeigte nach jahrelanger sexueller Belästigung drei Kollegen wegen sexueller Nötigung an. Das strafrechtliche Urteil lautete zwei Jahre Haft auf Bewährung. In einem weiteren zivilrechtlichen Verfahren erstritt sie Entschädigungszahlungen von den Tätern.
Der Jurist Johnson beobachtet eine grosse Kluft zwischen dem geschriebenen Recht und der gelebten Realität. Zwar verschärfte das Parlament 2017 und 2023 die Gesetze gegen sexuelle Gewalt, etwa indem es die Mindeststrafe für Vergewaltigung von drei auf fünf Jahre erhöhte.
Doch bis zu der Reform von 2023 musste nachgewiesen werden, dass das Opfer gezwungen wurde und sich nicht wehren konnte. Erst seit der Revision kommt es vor allem darauf an, ob der Geschlechtsverkehr einvernehmlich war. Die alte Haltung lebt allerdings in Teilen des Systems weiter.
Hinzu kommt das, was der Jurist Daniel Foote «wohlwollenden Paternalismus» genannt hat. Damit meint er ein System, in dem Staatsanwälte die Verfahren dominieren – und auch hart zuschlagen können. Japan hat noch die Todesstrafe, und zwar durch den Strang.
Aber viele Verfahren werden im Sinne der Rehabilitation und Resozialisierung des Täters gegen Bussgelder eingestellt, bevor sie vor Gericht kommen. Vor Gericht geht es dann auch weniger um die Schuld oder die Unschuld, da in den meisten Fällen bereits ein Geständnis vorliegt. Täter und Täterinnen können aber auf Milde hoffen – wenn sie Reue zeigen.
Bewusstseinswandel in Japan: Immer mehr Vergewaltigungen werden angezeigt
Doch der juristische Umgang mit Vergewaltigung könnte härter werden. Denn die öffentliche Meinung ist im Wandel. Die am Donnerstag veröffentlichte Kriminalstatistik für 2024 zeigt, dass die Bereitschaft wächst, Anzeige zu erstatten bei sexueller Gewalt. Voriges Jahr stieg die Zahl der erfassten nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen um 14,7 Prozent, die des nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs um 45 Prozent. Die Zahl der angezeigten heimlichen Filmaufnahmen sexueller Natur haben sich sogar verdreifacht.
Ein Aspekt wird in der gegenwärtigen Diskussion jedoch kaum thematisiert: die Prostitution von Kindern und Jugendlichen. Shiiki wusste jedenfalls genau, wohin er im Vergnügungsviertel Kabukicho gehen musste. Aber vielleicht hilft die gesellschaftliche Diskussion über seinen Fall, auch dieses Problem gründlicher anzugehen.