In Kloten sind schon Jets über die kurze Piste hinausgerollt, sogar mit Todesfolge. Als Argument für oder gegen die geplanten Pistenverlängerungen taugen historische Beispiele aber nur bedingt.
Die Sicherheit ist ein grosser Streitpunkt in der Diskussion um die Pistenverlängerungen, über die die Zürcher Stimmberechtigten am 3. März abstimmen. Die Massnahme hat zum Ziel, dass alle Flugzeuge auf allen Pisten landen können.
Heute ist die Piste 28 in Ost-West-Richtung für viele Piloten grosser Verkehrsflugzeuge zu kurz. Sie dürfen gemäss international geltenden Regeln in der Luftfahrt auf dem Anflug auf der Piste ihrer Wahl bestehen, im Falle Zürich auf der längeren Nord-Süd-Piste. Dann muss die Flugsicherung das ganze System mühsam umstellen. Die Pistenverlängerungen würden dieses Problem entschärfen.
Kritiker des Flughafens hingegen sagen, das Sicherheitsargument sei vorgeschoben. «In 75 Jahren ist noch nie ein Flugzeug über das Ende der Piste 28 hinausgerollt», sagte SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf kürzlich in einem Streitgespräch der NZZ.
Nur: Diese Aussage ist so nicht ganz richtig. Dies ist Markus Wanner aufgefallen. Wanner, 83 Jahre alt, lebt in Kloten, seit er acht Jahre alt ist. Während Jahrzehnten arbeitete er auf dem Flughafengelände, er war Hauptkassier der Flughafendirektion des damals noch staatlich betriebenen Flughafens.
Wanner erinnert sich an mehrere Fälle, in denen die Piste 28 zu kurz war, in einem Fall kam sogar eine Person um Leben. Er hat einen zerstörten Jet, der unmittelbar am Ende des Flughafengeländes zum Stehen kann, selbst fotografiert. Es handelte sich um ein Privatflugzeug der Marke Learjet.
Gratis nach Nizza
Der Unfall ereignet sich am Sonntag, 12. Dezember 1965, einem Sonntag. Ein deutscher Flugzeugeigentümer hat sechs Bekannte eingeladen, mit ihm unentgeltlich von Frankfurt nach Nizza zu fliegen. Zürich ist ein Zwischenhalt.
Nach der Landung begibt sich der Besitzer des Flugzeugs mit seinen Gästen in das «Transitrestaurant» am Flughafen. Der Pilot überwacht das Tanken.
Der Unfall lässt sich anhand eines Berichts der Eidgenössischen Flugunfall-Untersuchungskommission rekonstruieren. Demnach nimmt es der Pilot mit der Kontrolle vor dem Weiterflug nicht so genau. Er unterlässt es, das Gewicht des Jets zu überprüfen, obwohl dies eigentlich vorgeschrieben wäre.
Für sechs Gäste stehen sechs Passagiersitze zur Verfügung. Für den Flugzeugbesitzer selbst hat es keinen Sitz mehr.
Er kauert sich «rücklings auf den Kabinenboden, unmittelbar hinter dem Piloten und der Co-Pilotin», wie es im Untersuchungsbericht heisst.
Es regnet stark, als der Pilot kurz nach 18 Uhr 30 auf die nasse Piste 28 rollt. Als er die Steuersäule anzieht, bemerkt er einen seltsamen Widerstand. Im Tower stellte der Flugverkehrsleiter gemäss Bericht «eine unwahrscheinlich hohe Geschwindigkeit» des startenden Flugzeuges fest.
Der Flugkapitän, ein ehemaliger Pilot der deutschen Luftwaffe mit Weltkriegserfahrung, fürchtet, dass das Flugzeug nach dem Abheben nicht wird steuern können. Er entschliesst sich zum Startabbruch.
Die Co-Pilotin stirbt im Spital
Doch es gelingt ihm nicht, das linke Triebwerk abzuschalten. Das Flugzeug überschiesst die Piste und rast mit 180 Kilometern pro Stunde weiter in Richtung Westen. Es fegt die Lampen des Anfluglichtersystems weg, zieht tiefe Furchen in die Wiese und rammt eine dort positionierte Kabelrolle. Die Fahrt endet im Zaun des Flughafenareals. Der Jet bleibt darin hängen.
Die rechte Seite des Rumpfes ist zertrümmert. Dort sitzt die Co-Pilotin, 37 Jahre alt. Sie erliegt den Verletzungen kurz nach ihrer Einlieferung ins Spital. Die anderen Insassen überleben zum Teil schwer verletzt.
Bei der Untersuchung stellt sich später heraus, dass eine lose Mutter im Steuerschacht die Steuerung des Flugzeugs blockiert hatte. Auch das Übergewicht von 265 Kilogramm wird im Untersuchungsbericht moniert.
Markus Wanner erinnert sich an einen zweiten Vorfall auf der Piste 28. Eine DC-10 mit Destination Tel Aviv startete mit 280 Personen an Bord. Der Pilot brach den Start wegen eines technischen Defekts ab.
In diesem Fall gelang es dem Flugkapitän aber, das Flugzeug rechter Hand in die Wiese zu steuern. So konnte er eine Kollision mit dem Flughafenzaun vermeiden.
Wanner sieht das Bild noch vor sich, wie die Flughafenfeuerwehr mit schwerem Gerät anrückt und den Jet mit grosser Mühe von der Wiese zurück auf die Rollbahn zieht.
Zu grösseren Schäden kam es nach Wanners Wissen nicht. Im Archiv der Flugunfall-Untersuchungskommission ist der Vorfall denn auch nicht auffindbar. Wanner kann ihn nicht mehr genau datieren, es dürfte sich um die frühen siebziger Jahre handeln.
Heute befindet sich am Ende der Piste 28 ein spezielles Bremssystem: Flugzeuge, die bei einem Startabbruch oder einer Landung die Piste 28 überrollen, fahren über ein Bett mit weicher Unterlage und sollen darin einbrechen. Unter der Unterlage liegen speziell gefertigte Betonblöcke. Der Schaden am Flugzeug ist in so einem Fall jedoch immens.
Hinter dem Zaun liegen die Glatt mit ihren steilen Ufern, landwirtschaftliche Nutzfläche, die Kantonsstrasse zwischen Rümlang und Oberglatt und schliesslich das Industriegebiet Rümlang. Mit den Pistenverlängerungen würde das Areal neu gestaltet, die Glatt verlegt. Das Bremssystem würde hinter der verlängerten Piste neu aufgebaut.
Das Bremssystem ist insofern von Bedeutung, als es selbst bei Annahme der Pistenverlängerungsvorlage noch ein gutes Jahrzehnt dauern wird, bis das Vorhaben umgesetzt ist.
Heute wird tagsüber auf der Piste 28 gestartet und abends gelandet. Die Länge der Piste ist noch immer dieselbe wie im Jahr 1965: 2500 Meter. Dies ist im internationalen Vergleich sehr kurz. Für Start und Landung mittelgrosser Flugzeuge ist die Länge aber ausreichend.
Bei grossen, schweren Verkehrsflugzeugen sieht es anders aus – Piloten verweigern vor allem bei Nässe die Landung darauf, was der Hauptgrund für die geplanten Pistenverlängerungen ist.
Auch beim Start nutzen schwere Maschinen in der Regel die längeren Pisten in Nord-Süd-Richtung. Dies würde allerdings auch mit den Pistenverlängerungen so bleiben. Denn bei einem Start auf der Piste 28 nach Westen stünde für grössere Flugzeuge die Lägern im Weg. Angesicht deren geringer Erhebung mag dies erstaunen, doch es gelten mit Blick auf das Risiko eines missglückten Starts strenge internationale Vorgaben.
Bei einem Notfall beim Start wie damals im Dezember 1965 könnte eine längere Piste zwar durchaus hilfreich sein. Doch bei der Verlängerung der Piste 28 geht es grundsätzlich nicht um Starts Richtung Westen, sondern um Landungen von Osten her, auch für schwere Flugzeuge und bei allen Wetterlagen.
Priska Seiler Graf räumt ein, dass ihre Aussage, es sei noch keine Maschine über die Piste hinausgerollt, so nicht ganz korrekt gewesen sei. Offenbar sei der Vorfall von 1965 aber auch den Flughafenverantwortlichen unbekannt, denn diese hätten sie in diesem Punkt noch nie korrigiert.
Sie sagt: «Es wäre aber falsch, die Situation von vor 60 Jahren mit heute zu vergleichen.» Die Flugzeuge seien technisch auf einem ganz anderen Stand. Relevant sei doch die Frage, ob der Flughafen heute sicher sei oder nicht. «Und er ist sicher.»
Markus Wanner gibt Priska Seiler Graf in diesem Punkt grundsätzlich recht. Unmittelbar Angst wegen der Sicherheit in Kloten müsse man nicht haben, sagt er. Trotzdem ist Wanner klar für die Pistenverlängerungen: Dass kein akuter Notstand bestehe, sei kein Argument gegen Verbesserungen. Die vielen Kreuzungspunkte in Zürich seien für die Flugsicherung ohnehin schwierig. «Der Anflug auf Zürich ist für Piloten einer der anspruchsvollsten der Welt.»
Die von ihm aufgeführten historischen Beispiele will Wanner nicht als Argumente für oder gegen die Pistenverlängerungen verstanden wissen. Doch sie zeigen, dass die kurze Piste 28 am Flughafen Zürich durchaus schon Piloten zum Verhängnis geworden ist. Mit fatalem Ausgang.