Er leitete mehrere Opernhäuser und alle grossen Orchester der Welt. Perfektion war für den Abkömmling einer berühmten Künstler- und Politikerfamilie immer nur ein Mittel, nie Selbstzweck. Am Samstag ist er im Alter von 95 Jahren gestorben.
Wer in einer politisch so engagierten und künstlerisch bedeutenden Familie aufwächst wie Christoph von Dohnányi, der wird sein Leben lang von tief verinnerlichten und kompromisslos hohen Massstäben geprägt. Musik war für diesen Dirigenten denn auch stets eine ethisch aufgeladene Angelegenheit – jenseits aller Weltverbesserungs- und Predigerallüren, denen er ebenso misstraute wie den Posen der Selbstdarstellung.
Geboren wurde Christoph von Dohnányi am 8. September 1929 in Berlin als Sohn des Juristen und Widerstandskämpfers Hans von Dohnanyi, der 1945 im KZ Sachsenhausen hingerichtet wurde. Sein Onkel war der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der 1945 im KZ Flossenbürg ermordet wurde. Das tief in der Familiengeschichte verankerte Bewusstsein einer politischen Moral führte Klaus von Dohnanyi, den Bruder des Dirigenten und ehemaligen Hamburger Bürgermeister, in die Politik. Christoph dagegen stellte sich mit diesem Ethos in die Tradition seines berühmten Grossvaters Ernö von Dohnányi, der als Pianist, Dirigent und Komponist gemeinsam mit Béla Bartók und Zoltán Kodály zu den grossen ungarischen Komponisten zählte.
Experimentierfreudig
Nach einem brillanten Musikstudium an der Musikhochschule in München, für das er mit dem Richard-Strauss-Preis ausgezeichnet wurde, setzte Christoph von Dohnányi seine Studien bei seinem Grossvater fort, der inzwischen nach Florida übersiedelt war. Mit 27 Jahren wird er als jüngster Generalmusikdirektor ans Theater Lübeck verpflichtet, leitet anschliessend die Oper Kassel und das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester. Von 1968 an verwandelt er die Oper Frankfurt zunächst als Generalmusikdirektor, ab 1972 auch als Opernchef in ein Zentrum des experimentierfreudigen Musiktheaters.
Sein Betriebsdirektor ist damals der junge Gerard Mortier. Gemeinsam machen sie sich stark für Regisseure wie Achim Freyer, Hans Neuenfels oder Peter Mussbach. 1977 wechselt von Dohnányi als Operndirektor an die Hamburgische Staatsoper, wo sein Engagement für das moderne Musiktheater und die neue Musik freilich nicht nur auf Gegenliebe stösst. Voller «Ekel vor dem wachsenden Spiessertum in der Musik» sei er gewesen, als er seinen Vertrag in Hamburg 1984 nach Kontroversen mit Orchester und Verwaltung vorzeitig aufgelöst habe, bekannte er später.
Seine Begegnung mit dem Cleveland Orchestra hingegen glich einer Liebe auf den ersten Ton: Mitläufer gebe es in diesem Orchester nicht, schwärmte er in einem Interview. In achtzehn erfolgreichen Jahren an der Spitze des amerikanischen Spitzenorchesters gelingt es von Dohnányi, zeitgenössische Musik regelmässig ins Programm zu integrieren – er verkauft damit sogar mehr Abonnements und verjüngt nebenbei das Publikum.
Von 1997 an prägt von Dohnányi auch zehn Jahre lang als Principal Conductor das London Philharmonic Orchestra und kehrt von 2004 bis 2010 als Chef des NDR-Sinfonieorchesters noch einmal nach Hamburg zurück. Bis ins höchste Alter dirigiert er regelmässig als Gast in New York, Boston, Chicago, Philadelphia, Los Angeles, Washington oder Berlin.
So und nicht anders
Christoph von Dohnányi war alles andere als ein Exzentriker. Seine Interpretationen beeindrucken durch ihr hohes Mass an Kultiviertheit, Wohlproportioniertheit und innerer Balance, exzessives Wühlen im Ausdruck ist ihnen fremd. Aus Dohnányis Deutungen stehen nicht allerorten jene Nägel und Spitzen heraus, die manchem schon als vordergründiger Beleg genügen für einen zeitgemäss «entschlackten» Zugriff auf vermeintlich letzte musikalische Wahrheiten.
Sein Interpretationsideal war vielmehr getragen von nüchtern-analytischer Leidenschaft, von einem Geist bruchlos gelingender Sublimiertheit. So vermittelten seine Aufführungen oft den trügerischen Eindruck, die persönliche Handschrift des Dirigenten würde hinter einer puren «Realisation» des Werks restlos verschwinden – trügerisch deshalb, weil es tief empfundener und ausgefeilter Interpretationen bedarf, um Musik derart «objektiv» klingen zu lassen, als könne sie nur so und nicht anders gespielt werden. Am 6. September, zwei Tage vor seinem 96. Geburtstag, ist Christoph von Dohnányi in München gestorben.