Velofahren macht Spass, ist gesund und nützt der Umwelt – kann aber auch rücksichtslos sein, ja kann andere gefährden. Dabei gibt es längst einen Verhaltenskodex.
Als es passiert, merkt es der Mountainbike-Fahrer nicht einmal. Beschwingt saust er mit Tempo 40 den gut einsehbaren Wanderweg hinunter und dabei nahe an einer Rinderherde vorbei. Etwas zu nah, denn die Paarhufer erschrecken – und geben ebenfalls Gas. Wenn solch ein halbes Dutzend Kühe im Pulk losgaloppiert, bebt der Boden, knicken Elektrozäune gelegentlich wie Streichhölzer um. So auch im beschriebenen Fall, und als später der Landwirt zum Aufräumen anrückt, hallt das Echo seiner Flüche durchs ganze Tal.
Nutztierhalter kennen die Reaktion, Velofahrer weniger. Und mit steigender Anzahl der immer öfter elektrifizierten Bergradler besteht offenbar Aufklärungsbedarf. Dabei ist eigentlich klar: Weide- wie Naturschutzzonen sind keine Rennstrecken; Berggäste oder Touristen sind dort mehr geduldet als erwünscht – auch weil es häufig zu solchen Zwischenfällen kommt. Dabei stossen oft nicht nur Vieh und Radler aufeinander, sondern auf den oft schmalen Pfaden auch Velofahrer und Wanderer.
Klar ist: Velos dürfen in den Bergen nur auf signalisierten Wegen fahren. Aber wenn das Tempo nicht stimmt, wird es schnell eng, sind gegenseitige Beschimpfungen noch das Mindeste. Im noblen Bergdorf Gstaad können sie ein Lied davon singen und verteilen deshalb den Hinweis-Aufkleber «Share the trail – take it easy»!
Andere alpine Gemeinden tun Ähnliches. Denn das Thema ist ernst, und die Rega fliegt längst nicht nur Skifahrer ins Spital. Dabei wäre Entspannung so einfach: mit etwas mehr Gelassenheit, Voraussicht – und Humor. Zu Letztgenanntem trägt seit nunmehr zehn Jahren die Swiss Trail Bell bei: Das ist eine kleine Glocke für den Velolenker, mit der man sich bei vorsichtigem Annähern rechtzeitig bemerkbar machen kann.
Wer zu schnell fährt, reagiert oft zu spät
Die meisten Radfahrer verhalten sich anständig; es sind die wenigen Rücksichtslosen, die – anders als Autofahrer – kaum zur Rechenschaft gezogen werden. Dabei muss es nicht unbedingt in einem Zusammenstoss münden: Velofahrer verunglücken auch allein, mehr als drei Viertel sind Selbstunfälle. Die Ursachen sind vielfältig, beispielsweise digitale Ablenkungen oder Selbstüberschätzung – etwa wenn man das Mountainbiken gerade erst entdeckt hat und sich dann untrainiert talwärts stürzt.
Die Statistik zeigt zudem, dass es vermehrt Unfälle mit Senioren gibt, die Geschwindigkeit und Bremsweg ihrer E-Bikes falsch eingeschätzt haben. Versicherungsgesellschaften verzeichnen einen starken Anstieg von Kaskofällen und werden demnächst wohl die Prämien erhöhen, auch wenn sie sich auf Nachfrage noch bedeckt halten.
Im urbanen Verkehr mit mehrspurigen Strassen und starker Regelung ist das korrekte Verhalten von Velofahrern besonders wichtig: Kurven schneiden oder über durchgezogene Linien fahren ist der Verkehrssicherheit abträglich. Zudem stört gelegentlich das trotzige Gebaren mancher Autogegner, die ihr Velo als Waffe einsetzen, um motorisierte Verkehrsteilnehmer auszubremsen.
Die 1992 in San Francisco gegründete Fahrrad-Bewegung «Critical Mass» formuliert entsprechend kämpferisch: «Wir blockieren nicht den Verkehr – wir sind der Verkehr!» In der Mobilitätswende und Umverteilung des verdichteten öffentlichen Raums prallen also Weltanschauungen aufeinander, wird das Verhalten aggressiver, begegnen sich zwei und vier Räder tendenziell feindselig und mit Misstrauen.
Doch nicht nur politische Gesinnung und Alltagsstress, auch Ignoranz kann schwer nerven. Etwa wenn zwei Rennvelofahrer auf der Landstrasse nebeneinander herfahren, um sich besser unterhalten zu können – das passiert leider öfter und ist hinter Kuppen oder Kurven kein Kavaliersdelikt, sondern schlicht illegal und lebensgefährlich.
Klaustrophobie im urbanen Raum verstärkt das Problem
Velos und Autos kommen sich gerade im urbanen Raum immer öfter ins Gehege. Dann sind nicht automatisch die Autofahrer schuld, sondern auch die lückenhafte, oft missverständliche Veloweg-Infrastruktur in vielen Städten und Gemeinden.
Gegenüber E-Bikes sind Fahrräder ohne Stromunterstützung gelegentlich im Nachteil. Gewiss, Stop-and-go auf dem Velo ist ohne Motor anstrengender, aber keine Entschuldigung für asoziales Verhalten oder schlenkerndes Anfahren.
Die Grundregeln sind einfach
Weil Pedelecs tendenziell schneller unterwegs sind und ihr Aufkommen allerorts zunimmt, ist es an dieser Stelle sinnvoll, an ein paar wenige, aber wichtige Regeln zu erinnern, die kritische Standardsituationen vermeiden helfen. An erster Stelle steht: Abstand halten, ganz besonders zu Kindern und älteren Menschen. Frühzeitiges Klingeln vermeidet Schrecksekunden, ein kurzer Gruss sorgt für Wohlwollen, und alle können ihren Weg entspannt fortsetzen.
Bei Ampeln gilt – Rot ist Rot. Allein rechts abbiegen ist Fahrrädern erlaubt, unter besonderer Vorsicht, versteht sich. Allerdings nur dann, wenn ein schwarzes Schild angebracht ist, auf dem ein gelbes Velo nebst Rechtspfeil zu sehen ist.
Auch das Bundesamt für Strassen (Astra) hat den Handlungsbedarf erkannt, erweitert dabei den Kreis der Adressaten und nennt seinen 24-seitigen Leitfaden «Knigge für und gegenüber Velofahrenden». Die Eckpunkte sind immer gleich: Im zunehmend engeren Verkehrsraum ist gegenseitige Rücksichtnahme keine Option, sondern Bedingung.
Stärkere Fahrzeuge, sprich Autos, müssen vermehrt auf Velos und beide besonders auf die schwächsten Verkehrsteilnehmer achten – Fussgänger. Für alles, was Räder hat, gilt: Telefon und Musik mit oder ohne Kopfhörer sind tabu (Alkohol oder Drogen werden hier nicht erwähnt).
Dazu kommen ein paar Extra-Regularien für Velos. So hat Gepäck am Lenker nichts zu suchen, sind vorne weisse, hinten rote und an den Pedalen vier gelbe Rückstrahler obligatorisch (Ausnahme: Renn- oder Sicherheitspedale). In der Dämmerung, in Tunnels, bei Dunkelheit oder Regen ist eine Beleuchtung vorgeschrieben (für E-Bikes inzwischen auch tagsüber).
Und auch zur Wahl der Fahrbahn gibt es klare Vorschriften: Radwege und -streifen müssen benutzt werden, sonst die Strasse; für S-Pedelec (mit Elektrounterstützung bis 45 km/h) gilt Letzteres immer. Nur unter 12-Jährige dürfen das Trottoir befahren, wo Passanten immer Vortritt haben; zudem benötigen 14- bis 16-Jährige für Pedelecs einen Ausweis der Kategorie M, also einen prüfungspflichtigen Mofa-Schein. Helle Kleidung wird grundsätzlich empfohlen, weil sie der Sichtbarkeit und damit der Sicherheit nutzt; für S-Pedelecs ist das Tragen eines Helmes Pflicht.
Auf der Strasse müssen Velofahrer ihre Fahrtrichtung klar kommunizieren, sprich: Handzeichen beim Abbiegen. Geht es nach links, gehört der Schulterblick zwingend dazu. «Lücke suchen und hinein» ist ein häufig zu beobachtender Sport – und lebensgefährlich. Dass in noch 99 Prozent der Fälle ein Bremslicht bei Velos fehlt, macht die Sache nicht besser. Vielen Radlern sind die Risiken offensichtlich nicht bewusst.
Rechts überholen ist absolut tabu; ganz besonders neben Lkw kann der tote Winkel zur Todesfalle werden. Auch Kreisverkehr will geübt sein; hier geniessen Velos bis zum Abbiegen das Vorrecht auf die Fahrbahnmitte. Übrigens ist bei weitem nicht jeder, der ohne Stützräder fahren kann, automatisch strassenverkehrstauglich; das Bundesamt für Strassen formuliert hier ausgesprochen höflich: «Mit dem Besuch eines Fahrkurses können Sie Ihre Fahrsicherheit verbessern.»
Immer mehr Velokuriere bevölkern die Trottoirs
Auch mit der Fahrtrichtung gibt es zuweilen Probleme. Kurierdienste stehen unter Zeitdruck; Fahrer des Take-away-Dienstes Uber Eats werden gar pro Lieferung bezahlt. Wenn dann eine Einbahnstrasse den Weg verkürzt, bleibt eine korrekte Fahrweise schon einmal auf der Strecke.
Auch manche Fussgängerzone ist heute ein Velo-Dschungel, in dem das Recht des Stärkeren ausgeübt oder nachts ohne Beleuchtung geradelt wird. Blinden Menschen mag das einerlei sein, dennoch schlägt auch der Schweizerische Blindenbund Alarm: «‹Handyzombies›, vertieft in ihre Bildschirme, verwaist liegen gelassene oder rasende E-Trottis oder zu Fuss schlendernde Gruppen, vertieft in ihr Gespräch, und niemand weicht einen Schritt zur Seite», heisst es bei der Vereinigung. «Speziell sehbehinderten und blinden Menschen fällt auf, dass Unachtsamkeit immer mehr zu einem Gesellschaftsphänomen wird.»
Der Blindenbund fordert: Augen auf – besonders für den weissen Stock. Denn der ist ein offizielles Schweizer Verkehrsschutzzeichen mit Vortrittsrecht beim Überqueren einer Strasse.
Zugegeben: Im Vergleich mit dem europäischen Ausland scheinen die Schweizer Velo-Verhältnisse noch gesittet. Doch auch hierzulande bröckelt der Anstand, werden Zweiräder gelegentlich rücksichtslos bewegt oder irgendwo auf Gehwegen abgestellt. Das dürfen sie auch – allerdings nur, wenn keine speziell gekennzeichneten Veloparkplätze vorhanden sind und Fussgängern mindestens 1,5 Meter Raum verbleiben.
Was die Einhaltung der Regeln zusätzlich erschweren kann, ist der unter Umständen vernachlässigte technische Zustand eines Velos, das trotz Zunahme komplexer Komponenten – Vollfederung, Scheibenbremsen oder ABS – in der Schweiz generell nicht der Fahrzeugprüfungspflicht untersteht.
Zusammenfassend geht es nicht ums Angstmachen, sondern um die möglichst ungetrübte Lust am Velo. Das ist längst kein Exot im Strassenbild mehr, sondern ein vollwertiger Verkehrsteilnehmer mit allen Rechten, aber auch Pflichten. Dazu kommt, dass sich E-Bikes heute in Geschwindigkeiten bewegen, die besondere Vorsicht erfordern. Mit steigender Verbreitung dürften sie bald genauso streng kontrolliert werden wie andere Fahrzeuge auch.