Weil er surfte, fühlte sich Frank González vom Staat bedroht und schikaniert. Er schaffte es dennoch fast an die Olympischen Spiele – und trug dazu bei, dass die Regierung umdachte.
An einem Dienstagabend im März nimmt Frank González in der Hamburger Laeiszhalle Ovationen entgegen. Er steht auf einer der berühmtesten Konzertbühnen der Welt, auf der schon Richard Strauss, Igor Strawinsky und Yehudi Menuhin auftraten. Und jetzt also ein kubanischer Surfer mit schulterlangen Haaren, Baseball-Kappe und verwaschenem Holzfällerhemd.
Alles ist aussergewöhnlich an der Lebensgeschichte, die González der «NZZ am Sonntag» am folgenden Morgen in der Lobby seines Hotels erzählt. Dass der 37-Jährige überhaupt zum Surfer wurde, ausgerechnet in Kuba – und wie weit er es damit brachte. Das Schicksal von González illustriert, wie Kubas sozialistisches Regime bisweilen Bürger schikaniert, die aus dem Rahmen fallen. Seine Geschichte zeigt aber auch beispielhaft, wie sehr eine sportliche Leidenschaft Kräfte freisetzen kann, Widerständen zu trotzen und Grenzen zu verschieben.
Versuche auf Holzbrettern, die Wasser aufsogen
González war noch ein Primarschüler, als ein Kollege zu ihm sagte: «Es kommt eine Kaltfront, lass uns surfen.» Auf Holzbrettern, 50 Zentimeter lang und 30 Zentimeter breit, stürzten sich die Kinder ins kalte Wasser. Weit kamen sie nicht, die Bretter sogen Wasser auf und wurden zu schwer. Doch González sagt: «Ab diesem Tag konnte ich nicht mehr damit aufhören.»
Morgens führte sein erster Weg bald nicht mehr in die Schule, sondern ans Meer. Wenn er glaubte, am Horizont eine Kaltfront zu erkennen, schwänzte er den Unterricht, denn nur dann ist Surfen an den Stränden von Havanna überhaupt denkbar, ohne Kaltfront fehlen geeignete Wellen. Auch meteorologisch ist Kuba für Surfer ein schwieriges Pflaster.
Moderne Surfbretter bestehen aus Schaumstoffen, die mit Glasfasern und Harz beschichtet sind. In den Geschäften von Havanna fand González kein einziges Exemplar, also wurde er zum Tüftler. Aus dem Dachstock eines leerstehenden Hauses entfernte der junge Kubaner Polyurethanschaum, der im Bausektor zum Dämmen und Abdichten verwendet wird. Glasfasern kaufte er in einem Fachgeschäft. Am Hafen stiess er auf eine schwarze Paste mit ähnlicher Konsistenz wie Harz.
In Eigenregie konstruierte sich González sein erstes mehr oder weniger brauchbares Surfbrett. In einem Magazin, das wohl ein Tourist in Havanna liegen gelassen hatte, hatte er ein Exemplar gesehen, eine bessere Bauanleitung besass er nicht.
Sportler lassen sich von nichts bremsen, wenn ihre Passion gross genug ist, schon gar nicht von schlechtem Material. Als der äthiopische Marathonläufer Abebe Bikila 1960 zu den Olympischen Spielen in Rom reiste, hatte er nur alte, ausgetretene Schuhe im Gepäck. Also rannte er barfuss zum Sieg. Seine Sturheit machte Bikila zum Wegbereiter späterer afrikanischer Läufergenerationen. Heute gilt es längst als normal, dass Äthiopier und Kenyaner den Marathon dominieren, natürlich in modernsten Schuhen.
Einige Jahrzehnte später schickte sich González mit jugendlichem Tatendrang an, zum Pionier der kubanischen Surfer zu werden. Doch seine Unbeschwertheit fand ein jähes Ende.
Die Soldaten fragten: «Bist du ein Spion?»
Die Soldaten kamen morgens um vier Uhr. Sie packten ihn, zerrten ihn auf einen Stuhl, richteten einen grellen Lichtkegel auf sein Gesicht, und dann prasselten ihm die Fragen entgegen: «Was willst du hier? Bist du ein Spion? Wer hat dich geschickt?»
González war laut eigener Aussage 16 Jahre alt, als die Soldaten das Zimmer seiner Unterkunft stürmten. Vorher hatte er nur vom Hörensagen mitbekommen, dass Surfer bei kubanischen Ordnungskräften unbeliebt waren: Bekannten von ihm waren am Strand die Bretter abgenommen worden. Plötzlich war er selbst von einer Razzia betroffen.
Gemeinsam mit Freunden war González 24 Stunden durch Kuba gereist, ihr Ziel war Baracoa im Osten des Landes. Sie waren auf LKW-Ladeflächen mitgefahren, getrampt und zu Fuss gelaufen. Entsprechend übernächtigt war González, als ihn die Soldaten in der Nacht aufsuchten. «Ich kam mir vor wie in einem Film», sagt González, «statt sinnvolle Antworten geben zu können, musste ich lachen.»
Trotz dem nächtlichen Einschüchterungsversuch ging González am nächsten Morgen an den Strand, sein Surfbrett auf den Schultern. Erst nach einer weiteren Warnung, ins Gefängnis geworfen zu werden, sollte er bis 10 Uhr nicht verschwunden sein, machte er sich auf den Heimweg.
«Sport ist das Recht des Volkes», verkündete einst Kubas Staatschef Fidel Castro. González hält dagegen, dass er jahrelang das Gegenteil erlebt habe, immer wieder fühlte er sich schikaniert und bedroht. «Es gab weitere Situationen, die schlecht hätten enden können», sagt er. «Aber ich konnte mich jedes Mal hinausmanövrieren.»
Es ist nicht möglich, die Schilderungen unabhängig zu überprüfen. Ein Vertreter der kubanischen Botschaft in Bern zieht sie in Zweifel. Er erklärt auf Anfrage, dass in seinem Heimatland kein Gesetz existiere, welches das Surfen verbiete. Er sagt, er halte es für unwahrscheinlich, dass Polizisten jemals Surfbretter konfisziert oder zerstört hätten. «Sollte das passiert sein, ist es zu verurteilen.» Denkbar sei, dass Polizisten das Surfen in Gefahrenzonen oder bei gefährlichen Wetterbedingungen verhindert hätten.
Plausibel scheint, dass das Surfen nur der Auslöser für González’ Ärger mit dem kubanischen Regime war. Die tiefere Ursache war eine andere: Männer wie er galten als latent verdächtig, mit dem Klassenfeind zu kollaborieren. In einem Land, das zeitweise sogar den privaten Besitz von Dollarnoten kriminalisierte, fiel González mit seinem Aussehen und seinem Verhalten auf. Mit englischsprachigen Tattoos, blondierten Haaren, seiner Vorliebe für Hollywoodfilme und seinen offenen Schwärmereien für die Pazifikinsel Hawaii dürfte er dem Polizeistaat suspekt gewesen sein.
«Sie wollen, dass alle gleich sind», sagt González, der sich dem Druck nie beugen wollte. «Entweder man hört in Kuba auf zu leben, oder man wird zum Regelbrecher. Ich entschied mich für Letzteres.»
Surfer wie González führten Kubas Regime ungeschminkt vor Augen, wie der kulturelle Einfluss der verhassten USA trotz allen Gegenmassnahmen ins Land schwappte. Wahrscheinlich waren sie der Regierung schon deswegen ein Dorn im Auge. Hinzu kommt: Sämtliche Aktivitäten an den Stränden und im Wasser stehen bis heute unter verschärfter Beobachtung, weil Kubaner immer wieder übers Meer zu fliehen versuchen. Schwimmendes Material zu besitzen, kann verdächtig machen.
Zu unterstellen, Surfer könnten allenfalls das Weite suchen, ist keineswegs paranoid. Erst im März 2022 gelang einem kubanischen Tauchlehrer auf einem Windsurfbrett die Flucht nach Florida. Als ihn die amerikanische Küstenwache aus dem Wasser zog, hatte er 370 Kilometer zurückgelegt.
González aber dachte nicht an eine Flucht, er sah sich als Surfer, und sein Wille war unzerstörbar. «Eine Welle ist ein Geschenk der Natur», sagt er. Sich auf dem Wasser zu bewegen, zu reiten, Tricks zu machen, sei ein Geschenk des Lebens. Seine heute achtjährige Tochter nannte er Paola, eine Mischung aus Papa und «ola», dem spanischen Wort für Welle.
Manchmal gelingt es Sportlern, gesellschaftlichen Normen zu trotzen. Auch die ersten Frauen, welche einst Marathonläufe bestreiten wollten, liessen sich nicht von Konventionen bremsen. Bobbi Gibb schaffte 1967 den Boston-Marathon, obwohl ihre Mutter zu ihr sagte: «Wie willst du so jemals einen Mann finden? Das ziemt sich nicht für eine Frau.» Auch ihre amerikanische Landsfrau Kathrine Switzer kam im folgenden Jahr ins Ziel, obwohl ihr der Renndirektor Jock Semple unterwegs die Startnummer vom Trikot reissen wollte.
Der amerikanische Filmemacher Corey McLean begleitete González jahrelang quer über die Insel, nach geeigneten Spots suchend, mit angstvollen Blicken nach rechts und links, stets zwischen Euphorie und Ernüchterung schwankend. In diesen Tagen läuft der Film «Havana Libre» im Rahmen der International Ocean Film Tour in verschiedenen europäischen Städten.
Am meisten, sagt der Filmemacher McLean, habe ihn nicht etwa González’ Mut fasziniert. Sondern sein sportliches Talent, im Wasser und auf dem Land. McLean staunt über die Leichtigkeit, mit der sein Protagonist aus heiterem Himmel Rückwärtssalti schlug. Über seine spielerisch zelebrierten Fähigkeiten auf dem Skateboard, «auch da war er der Beste von Havanna». Der Filmemacher fragt: «Wie stark hätte er erst mit einem Trainer werden können, mit professioneller Betreuung?»
Ein Video brachte die Wende
Dass er gut war, ahnte González. Als er erfuhr, dass Surfen an den Olympischen Spielen in Tokio ins Programm aufgenommen werden sollte, setzte er sich eine Teilnahme in den Kopf: «Ich träumte davon, dass die Kommentatoren meinen Namen rufen.»
Surfen an den Olympischen Spielen
Beim Wettkampf-Surfen bewertet eine Jury Variantenreichtum und Schwierigkeiten der vorgeführten Tricks. Bereits in den 1920er Jahren gab es erste Bemühungen, den Sport olympisch zu machen. An den Sommerspielen 2021 in Tokio war es so weit. 2024 werden die Medaillen in grosser Distanz von der Gastgeberstadt Paris vergeben: Gesurft wird in Teahupo’o auf Tahiti.
Es begann ein langer Kampf mit der Bürokratie. Der Film «Havana Libre» dokumentiert, wie González’ Mitstreiterin Yaya Guerrero etliche Male bei Kubas Sport- und Bildungsbehörde Inder anrief, um diese zu drängen, einen Verband zu gründen. Ohne eine solche Struktur, ahnte sie, würde es González bei allem Talent kaum nach Tokio schaffen. Doch Guerrero wurde wieder und wieder abgewimmelt, oft gingen die Mitarbeiter der Behörde nicht einmal ans Telefon. Anfragen der «NZZ am Sonntag» an Inder bleiben ebenfalls unbeantwortet.
Im verzweifelten Versuch, den Druck zu erhöhen, drehten Guerrero und González ein Video und stellten es ins Internet. Zu ihrer Überraschung wurde es mehr als eine Million Mal angeklickt. «Der Ozean ist eine Freiheit, die jedem zustehen sollte», kommentierte ein Zuschauer aus Taiwan. «Plötzlich fühlte es sich an, als würde uns die Welt zusehen», sagt González.
Ab diesem Moment schien es aufwärtszugehen. González und Guerrero erhielten eine Einladung zu einem Surf-Event auf Hawaii. «Ein Geschenk des Himmels», sagt er noch heute. Erstmals reiste das Duo ins Ausland, erstmals sahen sie ein Feuerwerk, und das auf der Insel ihrer Sehnsüchte.
Kurz darauf wurde González von den dortigen Veranstaltern gefragt, ob er an einem Qualifikationswettkampf für Olympia in Peru teilnehmen wolle. Inder habe ihm die Teilnahme verboten, sagt González; unabhängig bestätigen lässt sich das nicht. Er flog trotzdem nach Lima, sein Visum für die USA galt auch für Südamerika. Der Familienvater sagt, dass er ein hohes Risiko eingegangen sei: Er habe nicht gewusst, was ihm nach seiner Rückkehr drohen werde. «Aber ich hätte mir nicht verziehen, es in Peru nicht zu versuchen.»
Der Euphorie folgte, wie so oft, die Ernüchterung. Einsam und verunsichert missriet ihm der Wettkampf. Das Regime liess González unbehelligt zurück ins Land, ermöglichte ihm jedoch keine Teilnahmen an weiteren Olympia-Qualifikationen.
«Ich weiss nicht, ob ich einer der weltbesten Surfer geworden wäre», sagt González. «Aber ich hätte meinen letzten Tropfen Blut dafür gegeben, es zu versuchen.» Es blieb ihm verwehrt.
Und dennoch ist die Geschichte von González keine Geschichte des Scheiterns. Unter jungen Kubanern ist er bekannt geworden, vor allem bei jenen mit sportlichen Ambitionen. Sie sehen in ihm ein Vorbild, weit übers Surfen hinaus, wie der Filmemacher McLean bestätigt.
2021 begann nach fünf Jahren vergeblicher Versuche doch noch ein konstruktiver Austausch zwischen den Surfern und der Behörde Inder. Vielleicht half der Umstand, dass der Sport in jenem Jahr olympisch wurde: Der grösste Sport-Event der Welt hat im Land der Leichtathletik-Legenden Alberto Juantorena und Javier Sotomayor einen enormen Stellenwert. Womöglich hat das Internationale Olympische Komitee in Kuba mit der Integration des Surfsports ungewollt eine kleine Revolution unterstützt.
Jetzt ist einiges in Bewegung. «Surfen wird bei jungen Kubanern immer beliebter», sagt der kubanische Botschaftsvertreter in Bern. Besonders beliebt seien Spots an der Nordküste in Havanna, Holguín oder Guantánamo. Die Behörde Inder stehe in Kontakt mit dem panamerikanischen Surf-Verband, um aufstrebenden Sportlern künftig Trainingsmöglichkeiten, Beratung und möglicherweise Material bieten zu können.
Dass es nicht noch schneller vorwärtsgeht, begründet der Diplomat mit der Rezession. «Unser Land geht durch die schwerste Wirtschaftskrise der letzten dreissig Jahre», sagt er. Die Verschärfung der amerikanischen Sanktionen und die Pandemie hätten Kuba hart getroffen. «Die Folgen sind im Gesundheitssektor sichtbar, im Bildungswesen, in der Kultur und auch im Sport.» Der Staat müsse in der gegenwärtigen Lage Prioritäten setzen, die Ressourcen seien begrenzt.
González ist wegen der Krise mit seiner Familie nach Spanien gezogen, möglich war das wegen europäischer Vorfahren. «Es wurde in Havanna von Tag zu Tag schlimmer», sagt er, als müsse er sich für den Entscheid entschuldigen.
Der Umzug kam auch einem endgültigen Verzicht auf seine eigenen sportlichen Ambitionen gleich: Er wohnt zwar auch in Spanien am Meer, allerdings in einer Gegend, in welcher der Wellengang das Surfen noch seltener ermöglicht als in Havanna. Seine Liebe zum Sport war beinahe grenzenlos. Noch grösser war jedoch am Ende der Wunsch, der Familie ein besseres Leben zu ermöglichen.
Doch González ist zum Wegbereiter kubanischer Surfer geworden, die dereinst an Olympia teilnehmen könnten. Er hat Pionierarbeit geleistet wie die Läufer Abebe Bikila und Bobbi Gibb. Seine Geschichte ist auch vergleichbar mit jener der saudischen Fussballerin Bayan Sadagah. Bis 2018 durften Frauen in Saudiarabien noch nicht einmal als Zuschauerinnen ins Stadion. Sadagah spielte als Kind zu Hause Fussball, mehr blieb ihr nicht. Später gründete ihre grosse Schwester eines der ersten Frauenteams des Landes. Heute ist Bayan Sadagah Captain der Nationalmannschaft. Gelegentlich forcieren Sportlerinnen und Sportler den gesellschaftlichen Fortschritt.
Als er bei der Premiere der International Ocean Film Tour in der Hamburger Laeiszhalle bejubelt wird, steht González zunächst etwas verloren auf der Bühne. Doch dann zieht er sein Handy aus der Hosentasche und filmt die Menschen, welche allesamt für ihn aufgestanden sind. Und er muss lachen. Es ist ein befreiteres Lachen als damals, als die Soldaten kamen.