Eine neue Netflix-Dokumentation zeigt, wie gross die Probleme des spanischen Frauen-Nationalteams bereits vor dem Übergriff von Verbandschef Luis Rubiales auf die Spielerin Jenni Hermoso waren.
Am Ende war es ein Tweet, der den Fall von Luis Rubiales einleitete. Die Weltfussballerin Alexia Putellas schrieb: «Das ist inakzeptabel. Es reicht. Ich stehe dir bei, @Jennihermoso.» In den folgenden Stunden wurde aus dem simplen #seAcabò, es reicht, der Schlachtruf einer Kampagne, die das ganze Land erfasste. Die spanischen Fussballerinnen verwendeten ihn zuerst, dann Hunderte Frauen an Demonstrationen auf den Strassen von Madrid.
Esto es inaceptable. Se acabó. Contigo compañera @Jennihermoso
— Alexia Putellas (@alexiaputellas) August 25, 2023
Eine Netflix-Dokumentation erzählt nun die Geschichte nach, die zum Tweet von Putellas geführt hat, aus der Sicht der Frauen. Es ist das erste Mal, dass die spanischen Fussballerinnen über die Ereignisse rund um ihr Nationalteam sprechen. Sie vermitteln das Bild eines Verbands, der von Vetternwirtschaft, Deals unter Günstlingen, Machismo und mangelnder Professionalität geprägt war.
Was die Welt sah, den Kuss, den der damalige Verbandspräsident Luis Rubiales der Spielerin Jenni Hermoso nach dem WM-Final 2023 auf den Mund drückte, ist bei aller Ungeheuerlichkeit nur Ausdruck von jahrelangem systematischem Sexismus.
Die Chefs stehlen den Frauen den Titel
«Wir waren seine kleinen Mädchen», sagt die Verteidigerin Irene Paredes einmal, als sie von Rubiales spricht. Nichts illustriert das besser, als sein Auftritt an der Teamsitzung vor dem WM-Final. «Alexia, wer ist härter, ihr oder sie?», fragt er. Putellas schweigt. Er: «Ich höre nichts.» «Wir», sagt sie. Er: «Lauter.» Sie antwortet lauter.
Er fragt Aitana Bonmati, wer cleverer sei, und lässt sie die Antwort wiederholen. Er fragt alle: «Wer hat die grösseren Eierstöcke», und lässt alle die Antwort wiederholen, bis sie ihm laut genug ist. Den Spielerinnen wird in der Dokumentation die Machtdemonstration noch einmal vorgeführt; in ihren Gesichtern sieht man Hilflosigkeit, Scham, Abscheu.
Wie sehr der Verbandschef die Spielerinnen missachtete, zeigt auch die Szene am Rand des WM-Finals, den Spanien 1:0 gegen England gewann. Als das Spiel abgepfiffen wurde, griff sich Rubiales triumphierend zwischen die Beine. Die obszöne Geste war eine Verbrüderung mit dem Trainer Jorge Vilda unten auf dem Platz: Sie hatten es geschafft. Als Rubiales schliesslich bei der Siegerehrung Hermosos Kopf mit beiden Händen packt und ihr den Kuss auf den Mund drückt, stiehlt er den Frauen den Titel endgültig. Nichts anderes wird sie in den Wochen, die folgen, beschäftigen.
Dass die Spanierinnen überhaupt Weltmeisterinnen wurden, ist erstaunlich. Nicht weil sie schlechte Spielerinnen waren. Denn Putellas, Bonmati und Paredes hatten mit dem FC Barcelona die Champions League gewonnen, sie wussten, dass sie zur Weltspitze gehören. Umso unerträglicher war für sie, dass im Nationalteam Trainings und Matchvorbereitungen ungenügend waren, und der Coach Vilda nicht auf der Höhe war.
Vilda reagiert auf seine Mängel mit Kontrollwahn. Er schaut in die Taschen der Spielerinnen, wenn sie vom Einkaufen zurückkommen, betritt ihre Zimmer, wenn sie bereits im Bett liegen. Die Spielerinnen kämpfen vergeblich für Verbesserungen, während die Spieler des spanischen Nationalteams der Männer fette Prämien kassieren. So schrieb Sergio Ramos, langjähriger Star von Real Madrid, in einer SMS-Meldung an Rubiales: «Und vergiss ja nicht die Hublot-Uhr.»
Im September 2022, nach einer weiteren missglückten EM, waren 15 spanische Nationalspielerinnen zurückgetreten, einige kamen dann für die WM 2023, die mit dem Titelgewinn endete, zurück.
Auf jede Initiative der Spielerinnen, auf ihre Bitten nach einer Verbesserung hat der Verband stets mit Lügen und Schuldzuweisungen an die Spielerinnen reagiert. Er zieht diese Strategie auch dann durch, als die ganze Welt den Übergriff auf Hermoso gesehen hat.
Bereits unmittelbar nach dem WM-Final kursierte eine Erklärung, in der Hermoso den Kuss als einvernehmlich deklarierte. Das hat sie nie getan. Man sieht sogar, wie sie in der Garderobe inmitten der Siegesfeier zur ominösen Szene sagt: «Das hat mir aber nicht gefallen.» Sie weint im Bus neben Putellas, die Kolleginnen können nicht einordnen, was passiert ist. Und Hermoso weint wieder, als sie in der Dokumentation davon erzählt.
Die Marketingabteilung drängt sie, bei der Integritätsstelle des Verbands ein Statement abzugeben, dass der Kuss aus der Euphorie resultiert sei. Der Sportdirektor des Verbands, Albert Luque, fordert eine Freundin Hermosos per SMS auf, diese zum Nachgeben zu bringen. «Ich finde Jennis Haltung echt abscheulich», schreibt er, «ich hoffe nur, sie kriegt, was sie verdient». Die Drohungen verfehlen ihre Wirkung nicht. Hermoso sagt, sie habe nicht herumlaufen können, ohne aus Angst ständig hinter sich zu blicken.
Verbandspräsident Rubiales sagt zum Trainer Vilda: «Wir haben viel ertragen, Jorge»
In den Tagen nach dem Titelgewinn wächst der Druck auf Rubiales. Er reagiert, indem er eine ausserordentliche Versammlung einberuft. Dort stilisiert er sich zum Opfer eines «falschen Feminismus» und erklärt wieder, der Kuss sei einvernehmlich gewesen. Zum Trainer Vilda sagt er: «Wir haben viel ertragen, Jorge. Bleib weitere vier Jahre bei uns, du verdienst 500 000 Euro im Jahr.» Fünf Mal wiederholt Rubiales: «Ich trete nicht zurück.» Es kommt der Moment, in dem Alexia Putellas nicht mehr anders kann, als zu sagen: Es reicht.
Die Spielerinnen verfassen ein Statement, in dem sie Hermoso ihre Unterstützung versichern. Es sind nun nicht mehr 15, sondern alle ehemaligen und aktuellen Nationalspielerinnen; sie kündigen an, unter dieser Führung nicht mehr für Spanien zu spielen. Sie hätten Angst gehabt, nie wieder ins Nationalteam berufen zu werden, «aber das war wichtiger als jede Angst», sagt Irene Paredes.
Was die Frauen ebenfalls klar machen: In dieser Sache ging es nicht um Querelen mit einem hinterwäldlerischen Verband. Das Signal, das sie aussenden wollen, ist: Übergriffiges Verhalten von Männern ist nicht akzeptabel. Es ist auch die Botschaft der Netflix-Dokumentation.