Bis heute sind im öV fehleranfällige Fahrzeuge im Einsatz – auch in der Stadt Zürich.
Am Morgen des 24. November 2023 will ein Mann noch schnell das Tram Nummer 9 an der Haltestelle Luchswiesen in der Stadt Zürich erwischen. Es ist 6 Uhr 35, das Tram wird bald Richtung Schwamendingerplatz abfahren. Um die hinterste Tür am Schliessen zu hindern, hält der damals 31-Jährige seinen Fuss zwischen die Türflügel.
Er glaubt, die Türe werde sich wieder öffnen. Aber das tut sie nicht. Sie bleibt geschlossen, und der Fuss des Mannes ist eingeklemmt. Davon bekommt der Trampilot nichts mit. Er fährt los – und der Mann wird achtzig Meter weit mitgeschleift. Dabei wird er schwer verletzt.
In der Stadt Zürich kommt es im Schnitt jede Woche zu einem Unfall zwischen einem Fahrzeug der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) und einem Fussgänger, wie die Unfallstatistik der VBZ zeigt. Erst am 11. November hat im Stadtkreis 7 ein Tram der Linie 3 einen Mann erfasst. Dieser wurde bei der Kollision schwer verletzt und verstarb später im Spital.
Tödliche Unfälle sind selten, brenzlige Situationen hingegen gibt es regelmässig. Am meisten Unfälle mit Körperverletzung (340) gab es letztes Jahr bei sogenannten Stoppunfällen – dann also, wenn das Fahrpersonal einen Notstopp einleiten musste. 204 Unfälle ereigneten sich beim Ein- und Aussteigen.
Der Trampilot und Präsident des Personalverbands «Transfair – VBZ Züri-Linie», Heinz Schulthess, sagte im Frühling in einem Interview mit der NZZ: «Es gibt jeden Tag Situationen, die schlimm oder sogar tödlich enden können.»
Notentriegelung der Türe nur schwer zu bedienen
Dass Passagiere in letzter Sekunde ins Tram springen oder einen Fuss zwischen die Türe halten, wie es der Mann an der Haltestelle Luchswiesen getan hat, passiert ständig. Eigentlich sollte ein Schutzmechanismus der Türen dafür sorgen, dass keine Körperteile eingeklemmt werden können.
Wie also konnte es zu diesem Unfall kommen? Dies hat die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) geprüft und einen Schlussbericht verfasst, der nun vorliegt.
Das Unfalltram ist ein Fahrzeug des Typs Tram 2000, das vor 32 Jahren in Betrieb genommen wurde. Es sind die ältesten Trams der Flotte, viele haben keinen Niederflureinstieg. Und anders als die modernen Cobra- oder Flexity-Trams verfügen die 2000er Modelle über sogenannte Flügeltüren. Als Einklemmschutz dienen ein Trittbrettkontakt, eine Lichtschranke sowie je eine Kontaktleiste an den beiden Türkanten.
Der Bericht der Sust zeigt nun auf: Bei der betreffenden Türe lassen die technischen Komponenten keine Kontaktleiste zu, die bis ganz nach unten führt. Im untersten Bereich der Türe hat die Lichtschranke den Fuss nicht erfasst. Deshalb hat der Einklemmschutz nicht richtig funktioniert.
In der Untersuchung konnten Personen mehrmals einen Fuss in den untersten Bereich zwischen den Türkanten halten – trotzdem schloss die Türe vollständig. Damit wurde dem Trampiloten die Türe als geschlossen gemeldet und die Fahrsperre aufgehoben. Auch bei einer anderen Türe des Trams habe dieser Effekt erzielt werden können. Die Sust kommt zum Schluss, dass der Einklemmschutz bei «bestimmten Konstellationen» des Tram-Typs 2000 nicht zuverlässig funktioniert.
Kein gutes Licht wirft die Untersuchung auch auf die sogenannte Türnotöffung mit einem Hebel im Fahrzeuginnern. Gemäss Bericht gelang es nicht einmal Mitarbeitern der Werkstatt, den Hebel zu betätigen: «Der benötigte Kraftaufwand war derart hoch, dass im ersten Moment auf eine Verriegelung des Bedienhebels geschlossen wurde.»
Im Bericht sind ähnliche Unfälle der letzten Jahre aufgelistet, bei denen die Türkontrolllampe im Führerraum erlosch.
So wollte im Januar 2016 eine 78-jährige Frau in Zürich an der Haltestelle Schweighof in die Sihltal-Zürich-Üetliberg-Bahn einsteigen. Dafür hielt sie sich an einer Haltestange bei der hintersten Türe fest. Doch bevor sie einsteigen konnte, schloss die Türe. Die Frau wurde einige Meter mitgeschleift, stürzte dann zu Boden und wurde dabei schwer am Kopf verletzt.
Ein schwerer Unfall ereignete sich bei einem Zug. Im August 2019 wurde in Baden der 54-jährige Zugchef eines Interregio beim Abfahren des Zuges in einer Tür eingeklemmt. Auch er wurde auf dem Perron mitgeschleift und tödlich verletzt.
Vergleichsweise glimpflich kam im März 2020 ein Mann im Bahnhof Bern davon. Er versuchte mit seiner Hand eine sich schliessende Zugtüre aufzuhalten. Doch die Türe schloss, die Hand des Mannes war eingeklemmt – und der Zug fuhr los. Rund 45 Meter rannte er neben dem Zug her, bis er sich aus eigener Kraft befreien konnte. Er wurde leicht verletzt.
Passagiere unterschätzen die Gefahr
Zwar hat die Sust nach Unfällen wie den oben genannten Sicherheitsempfehlungen ausgesprochen, die aufgrund der Rückmeldungen des Bundesamts für Verkehr als umgesetzt gelten. Allerdings sind gemäss Sust immer noch Türschliesssysteme ohne zuverlässigen Einklemmschutz in Betrieb. Und: Passagiere unterschätzen die Gefahr, eine schliessende Tür mit Füssen oder Händen wieder öffnen zu wollen.
Etwas lapidar heisst es dazu im Bericht: «Die Umsetzung der eingeleiteten Massnahmen benötigt Zeit, bis deren Wirkung ähnliche Ereignisse verhindert. Bis dahin bleiben bekannte Risiken weiterhin bestehen.»
Keine Sicherheitsempfehlung gibt die Sust nach dem Unfall an der Haltestelle Luchswiesen in Zürich ab. Sie begründet dies damit, dass die VBZ eine Risikoanalyse durchgeführt und daraus Schlüsse gezogen hätten.
Konkret prüfen die Verkehrsbetriebe, ob und wie sich bei der bestehenden Tram-2000-Flotte die Sensibilität des Einklemmschutzes erhöhen lässt. Auch die Türnotentriegelung soll künftig einfacher bedient werden können. Wie ein VBZ-Sprecher gegenüber der NZZ sagt, ist der Einklemmschutz bei den neuen Trammodellen Cobra und Flexity umfangreicher als beim Typ Tram 2000.
Dieser ist ohnehin ein Auslaufmodell und wird in den nächsten Jahren ausgemustert. Von ursprünglich 171 beschafften Fahrzeugen sind noch 77 im Einsatz. Tram 2000 sind mitunter als Doppelkomposition unterwegs, Motorwagen und motorisierte Anhänger werden hier als einzelne Fahrzeuge gezählt.