Ambri-Piottas Kanadier Alex Formenton reist «aus persönlichen Gründen» sofort nach Hause. Klärt sich bald auf, was im Sommer 2018 mit Spielern des kanadischen U-20-Goldmedaillenteams in einem Hotelzimmer in Ontario geschah?
Am Sonntag kommunizierten die Calgary Flames, dass Dillon Dubé das Team per sofort verlasse, um sich «auf unbestimmte Zeit seiner psychischen Gesundheit zu widmen». Zwei Tage später folgte ein identisches Statement zu Carter Hart, dem Torhüter der Philadelphia Flyers. Am Mittwochnachmittag gab der HC Ambri-Piotta bekannt, dass Alex Formenton, 24, «aus persönlichen Gründen» per sofort nach Hause reise. Kurz darauf war es auch bei Cal Foote und Michael McLeod so weit, beide sind bei den New Jersey Devils beschäftigt.
Wird das Eishockey gerade von einer Welle der Selbstverwirklichung heimgesucht, in der das persönliche Wohlbefinden höher gewichtet wird als das Resultatdenken? Siege für die Menschlichkeit?
Wenn es nur so wäre. Dubé, Hart und Formenton waren Teil jener kanadischen U-20-Nationalmannschaft, die im Januar 2018 in Buffalo WM-Gold gewann. Sie waren auch knapp ein halbes Jahr später in London, Ontario, zugegen. Bei einer Art Gala von Hockey Canada, an der es darum ging, Spendengelder zu generieren.
An die Feierlichkeiten schliesst eine folgenschwere Nacht im Hotel «Delta Armouries» an, deren Details bis heute nicht aufgeklärt sind. Eine junge Frau soll dabei Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sein, sie hat detaillierte Vorwürfe geäussert und sagt, sie sei von mehreren Männern zum Sex genötigt worden. Eine erste polizeiliche Untersuchung wurde eingestellt, nachdem die Parteien einen Vergleich geschlossen hatten.
Schwarze Kassen bei Hockey Canada für Vergleichszahlungen
Es ist ein Vorgehen, welches bei Hockey Canada offenbar System hatte. Seit 1989 hat der skandalumwitterte Eishockeyverband 8,9 Millionen Dollar ausgegeben, um 21 Fälle von sexueller Gewalt aussergerichtlich zu regeln. Das Geld wurde offenbar unter anderem durch Mitgliederbeiträge in eine schwarze Kasse abgezweigt. Als das ans Licht kam, sagte der kanadische Premierminister Justin Trudeau: «Es ist für alle Menschen hart, Hockey Canada derzeit zu vertrauen oder diesem Verband irgendetwas zu glauben.» Etliche Unternehmen kündigten ihre Sponsorenverträge, darunter zuletzt im Herbst der Ausrüster Nike.
Der Verband hat ein umfassendes Imageproblem, und so, wie es aussieht, dürfte sich dieses in den kommenden Monaten weiter verschärfen. Der «Globe and Mail» berichtet, dass fünf Kaderspieler angeklagt werden und sich vor Gericht verantworten müssen; gemäss der Zeitung sollen die Spieler aufgefordert worden sein, sich schnellstmöglich in London einzufinden.
Im Dezember 2022 hatten die örtlichen Behörden in London mitgeteilt, dass «hinlänglicher Verdacht» darauf bestehe, dass sich fünf Spieler eines sexuellen Übergriffs schuldig gemacht hätten. Die Namen sind bisher nicht veröffentlicht worden, es gilt die Unschuldsvermutung. Hockey Canada hat sämtliche damaligen Kaderspieler «bis auf weiteres» suspendiert, sie dürfen für keinerlei Turniere mehr aufgeboten werden, auch nicht für den Spengler-Cup.
Formenton war am 14. Dezember 2022 in Ambri vorgestellt worden. Zu den Vorwürfen äusserte er sich als Einziger nie – siebzehn der U-20-Teamkollegen hatten öffentlich ihre Unschuld beteuert, drei waren an jenem Abend gar nicht vor Ort.
In Ambri sprach Formenton ausschliesslich über die Nebensächlichkeit Eishockey, was für ihn ziemlich angenehm gewesen sein muss. Der Klub vertrat die Haltung, dass nicht vorschnell geurteilt werden solle, und schrieb in einer Medienmitteilung: «Nach Gesprächen mit dem Spieler, der während der von der Polizei, der NHL und dem kanadischen Eishockeyverband durchgeführten Ermittlungen mit allen Behörden uneingeschränkt kooperiert hat, sowie seinen Anwälten ist der HCAP der Ansicht, dass es keinen Grund gibt, die Unschuldsvermutung gegen ihn nicht gelten zu lassen. Sollten die neuen Ermittlungen der kanadischen Polizei Elemente zutage fördern, die heute noch nicht bekannt sind, behalten sich der Club und der Spieler das Recht vor, ihre vertraglichen Beziehungen neu zu bewerten. Aus Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen werden der Spieler und der Club keine weiteren Erklärungen zum genannten Vorfall abgeben.»
«Eine Schande für das Schweizer Eishockey»
Für den Klub war der Transfer sportlich ein Glücksfall – Formenton ist jung und teuflisch schnell; er war NHL-Stammkraft, ehe Ottawa ihm im Sommer 2022 keinen Vertrag mehr anbot. Es galt als offenes Geheimnis, dass die Senators erst das Verfahren um die Vorkommnisse in London abwarten wollten. Ambri hatte da weniger Hemmungen, was nicht überall gut ankam. Seine Verpflichtung sei «eine Schande für das Schweizer Eishockey», schrieb «Le Matin», und «ein Schlag ins Gesicht aller weiblichen Fans im Land». Die Worte verhallten ungehört – im Oktober verpflichtete Ambri Formenton zum zweiten Mal, in 46 Partien erzielte er 20 Tore. Die Frage wird sein, ob es das wert war, wenn sich der Nebel gelichtet hat.
Es ist ein komplizierter, ein heikler Fall. Je nach Ausgang des Gerichtsfalls könnten auch dem HC Ambri-Piotta ein paar unangenehme Fragen ins Haus stehen.