Die Portugiesen träumten einst vom Weltreich, doch im 19. Jahrhundert zerbrach die Herrschaft. Vor diesem Hintergrund entfaltet José Maria Eça de Queirós sein Gesellschaftspanorama.
Langeweile breitet sich aus in den Strassen von Lissabon. Das Grossbürgertum vertreibt sich frei von finanziellen Sorgen die Zeit. Aufwendige Diners werden gegeben, man spricht dem Alkohol zu, wägt die Vor- und Nachteile von Monarchie und Republik ab, geht ins Theater, tauscht sich stundenlang über kunstgewerblichen Trödel aus, spielt Billard, kämpft auf der Fechtbahn und besucht Pferderennen, die nicht mehr als ein müder Abklatsch der englischen Vorbilder sind.
In diesen Kreisen spielt José Maria Eça de Queirós’ 1888 erschienener Roman «Die Maias», dessen Handlung bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht, doch im Wesentlichen die Jahre 1875 bis 1887 umfasst. Es sind Krisenjahre in der Geschichte Portugals, die leise vom Ende der Monarchie künden und eine Dekadenz verströmen, der man sich eher hingibt, als gegen sie anzukämpfen.
Manche erwägen, um der Perspektivlosigkeit zu entgehen, eine Vereinigung mit dem spanischen Nachbarn. Andere blicken neidvoll auf die wahrhaftigen europäischen Metropolen Paris und London, überzeugt davon, dass «der Portugiese» wegen seiner «Leidenschaft für die Form» niemals zum «Mann der Ideen» tauge und dass dafür eine zur Verweichlichung führende Erziehung verantwortlich sei: «Wir haben kein cricket, keinen football und auch kein running wie die Engländer. Wir haben auch nicht das Turnen wie die Franzosen, haben nicht den obligatorischen Militärdienst, der die Deutschen stark macht. (. . .) Wir haben nichts, was einem jungen Mann zu ein wenig Muskelkraft verhilft.»
Der Anfang vom Ende
José Maria Eça de Queirós (1845–1900), der als Konsul im diplomatischen Dienst in der Welt herumkam, greift in seinem drei Generationen umspannenden Roman diese melancholische Grundstimmung auf. Er spiegelt sie der Familie Maia, deren Angehörige sich dem Müssiggang und Liebschaften ergeben, die aber zugleich dem zur Schau gestellten bourgeoisen Habitus keinen Glanz mehr verleihen können.
Mit diesem Niedergang sieht sich vor allem Afonso da Maia konfrontiert, der gebildete, souveräne Patriarch, der 1875 im Alter von über 60 Jahren nach einem England-Aufenthalt nach Portugal zurückkehrt und zwischen seinem Landsitz Santa Olávia und Lissabon pendelt. Dort, in der Metropole, richtet er sich in seiner Casa do Ramalhete, dem Hauptschauplatz des Romans, ein und muss erleben, dass seine Frau früh stirbt und sein Sohn Pedro, ein «Schwächling», die Erwartungen nicht erfüllt.
Gegen den Willen des Vaters ehelicht Pedro die undurchsichtige Maria Monforte, die Tochter eines übel beleumundeten Sklavenhändlers. Das führt zum Bruch mit Afonso, der in der Folge seine beiden Enkel Maria und Carlos lange nicht zu Gesicht bekommt. Dass die väterlichen Bedenken berechtigt waren, zeigt sich rasch, als sich Pedros Frau mit einem neapolitanischen Prinzen und ihrer Tochter auf und davon macht. Pedro kehrt reumütig zu seinem Vater zurück und begeht Selbstmord. Sein zurückgebliebener Sohn Carlos wächst in der Obhut des Grossvaters auf. Die Spuren von Maria Monforte und ihrer Tochter verlieren sich.
Keine siebzig Seiten braucht Eça de Queirós, um diese Tragödie voranzutreiben. Danach verlangsamt sich das Erzähltempo, und der Roman lässt sich en détail auf Carlos’ Lebensweg ein. Dieser absolviert ein Medizinstudium, eröffnet eine Praxis, baut sich ein aufwendiges Labor und will sich daranmachen, ein Standardwerk über die Segnungen der modernen Medizin zu verfassen. Aus all diesen ambitionierten Plänen wird nichts. Patienten finden sich nur wenige ein, was Carlos dank seinem Reichtum nicht weiter belastet, und das mit allen Schikanen ausgestattete Labor wird kaum genutzt. Am Ende des Romans wird eine Modistin in Carlos’ Praxis ein Atelier einrichten.
Anstatt seine Karriere und sein vor sich hin dümpelndes Vaterland voranzubringen, zelebriert Carlos sein Gesellschaftsleben und lässt sich auf Affären ein, etwa mit der verheirateten Gräfin Gouvarinho. Der Reiz des Verbotenen freilich verpufft schnell, und brutal verstösst er seine Geliebte mit ihren widerlich gewordenen «endlosen Küssen».
Eça de Queirós schildert die von Überdruss gesättigte Welt mit scharfem, unbarmherzigem Blick. Dieser fällt nicht nur auf Carlos da Maia, sondern auch auf seine Freunde und Begleiter. Sie ergeben ein Bestiarium der grossbürgerlichen Dekadenz: vom mephistophelischen João da Ega, einer gescheiterten Existenz, der jeden kühnen Gedanken, der ihm in den Sinn kommt, äussert; über den vergeblich nach Höherem strebenden Pianisten Cruges; bis zu dem finnischen Botschafter Steinbroken, der gerne Gesangsdarbietungen zum Besten gibt oder dem romantischen Dichter Alencar, der der grösste Anhänger seiner lyrischen Ergüsse ist. Ein korrupter Bankdirektor und ein Intrigant, der vom sozialen Aufstieg träumt, vervollständigen das Gruselkabinett.
«Die Maias» entfalten so ein schillerndes Panorama von Figuren, die abgesehen von Afonso samt und sonders ihr Fett abbekommen. Das ist grossartig und gewitzt erzählt. Wenn Eça de Queirós sein Roman-Personal der Lächerlichkeit preisgibt, erinnert das zuweilen an Erzählverfahren, die Gustave Flaubert in «Madame Bovary» und in «Lehrjahre des Gefühls» vorgeführt hat.
Noch eine Katastrophe
Exaltierte Gespräche am Esstisch karikiert Eça de Queirós wirkungsvoll, indem er die vermeintlich bedeutsamen Gedankengänge abrupt von Dienern unterbrechen lässt, die ein Champignonhühnchen oder eine Gemüsebeilage ankündigen. Den Kommentar eines Erzählers braucht es dann nicht mehr.
Dazu gesellt sich ein ausgeprägter Sinn für Dramaturgie. Eça de Queirós’ Roman steuert unweigerlich auf eine Katastrophe zu, deren Ausmass Afonso schliesslich in den Tod treiben wird. Als Carlos nämlich auf die strahlend schöne und kluge Maria Eduarda trifft, Gattin, wie es heisst, eines reichen Brasilianers, scheint er die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Ihre Herkunft – ist sie wirklich in Wien geboren? – bleibt im Dunklen, bis ihre Vita als Lügengebilde enttarnt und ein schreckliches Geheimnis enthüllt wird.
Am Ende forciert Eça de Queirós das Tempo wieder. Carlos verlässt Portugal, und bei seiner Rückkehr in das «unbedeutende Leben» Lissabons streifen er und sein Freund Ega umher, geben sich scheinbar tiefsinnigen Gedanken hin: «Zumindest haben wir eine unumstössliche Lebenstheorie festgelegt. Es lohnt sich wirklich nicht, sich abzumühen und begierig hinter etwas herzurennen.» Die Dekadenz hat ihre Kreise gezogen, ist nicht aufzuhalten.
Es ist ein Glück, dass José Maria Eça de Queirós’ grosser Roman nun wieder zugänglich ist, neu übersetzt von Marianne Gareis, die ihm zudem ein informatives Nachwort beigegeben hat. Die Popularität dieses Autors hierzulande ist erstaunlich gering, obschon viele seiner Werke ins Deutsche übertragen wurden. Vor allem der Aufbau-Verlag hat sich zu Zeiten der DDR darum verdient gemacht und 1983 auch die erste Übersetzung der «Maias», von Rudolf Krügel, veröffentlicht. Nun endlich bietet sich die Chance, ihn neu zu entdecken. Es lohnt sich.
José Maria Eça de Queirós: Die Maias. Episoden aus dem romantischen Leben. Herausgegeben und übersetzt von Marianne Gareis. Hanser-Verlag, München 2024. 944 S., Fr. 59.90.