Der Naloxon-Nasenspray hat in den USA Tausenden Fentanyl-Süchtigen das Leben gerettet – in der Schweiz ist er eigentlich nicht zugelassen.
In einem Bürogebäude am Zürcher Klusplatz wird ein Stoff hergestellt, der Tausenden von Süchtigen das Leben retten könnte.
Das Labor, das sich dort befindet, gehört der Familie Fröhlich, die seit dreissig Jahren auch die Klus-Apotheke betreibt. Der Chefapotheker und Geschäftsführer John Fröhlich ist spezialisiert auf die Herstellung von Nasensprays. Seine Apotheke ist eine der wenigen, die über eine Bewilligung von Swissmedic verfügen, um nicht zugelassene Arzneimittel herzustellen.
Sein neustes Produkt interessiert die Gesundheitsbehörden der Stadt Zürich momentan brennend. Es ist ein Nasenspray gegen die drohende Fentanyl-Krise. Sein Name: Naloxon.
«Wenn man nicht reagiert, wird es Tote geben»
In den USA, wo die Fentanyl-Epidemie bereits mehrere hunderttausend Todesopfer gefordert hat, gelten Naloxon-Nasensprays als wirkungsmächtiges Gegenmittel gegen die gefährlichen Opioide. Sie bewahren viele Drogenkonsumenten vor einer Überdosis.
Genau solche Nasensprays hat die Stadt Zürich nun bei der Klus-Apotheke in Auftrag gegeben. Aber im Gegensatz zu den USA, wo das Medikament an die breite Bevölkerung verteilt wird, sind die Nasensprays hier vorerst nur Teil eines Notfallplans.
Denn Suchtmediziner fürchten, dass es bald auch in der Schweiz Fentanyl-Abhängige geben könnte. So sagte Philip Bruggmann, Co-Chefarzt Innere Medizin im Suchttherapiezentrum Arud, kürzlich gegenüber der NZZ, Heroin könnte wegen einer Verknappung bald durch synthetische Opioide ersetzt werden. «Sobald synthetisches Opioid dem Strassenheroin beigemischt wird, wird es in kürzester Zeit Tote geben, wenn man nicht sofort reagiert.» Denn der Stoff sei so potent, dass selbst Suchtkranke ihn nicht gewohnt seien.
Deshalb laufen die Vorbereitungen auf eine potenzielle Krise inzwischen auf Hochtouren.
In der Klus-Apotheke in Zürich, wo die Nasensprays produziert werden, gelten strenge hygienische Vorschriften.
Eintausend Nasensprays für den Notfall
Die Produktionsstätte von John Fröhlich liegt nur 100 Meter von der Klus-Apotheke entfernt. Besucher müssen sich eine Haube überstülpen und Schuhüberzüge anziehen, um ins Labor zu kommen. Selbst im Pausenraum, mit bester Aussicht über die Stadt und den See, muss stets ein weisser Schutzmantel getragen werden. Fröhlich sagt, das liege an den strengen Auflagen von Swissmedic.
Im Zimmer nebenan befinden sich hinter zwei Glasscheiben mehrere Maschinen, mit denen die Apotheke Medikamente und den Naloxon-Nasenspray herstellt. Knapp tausend Stück hat die Stadt Zürich bestellt, sie sollen noch diesen Monat produziert und in der Apotheke gelagert werden. Bei Bedarf können sie dann als Notfallmedikation an die Standorte des städtischen Dienstes ausgeliefert werden.
Mehdi Safavi ist Chefarzt der Zürcher Suchtfachklinik. Er koordiniert die Produktion der Sprays. Safavi erklärt, der Nasenspray diene bei einer Überdosierung lediglich als Überbrückung, bis der Rettungsdienst eintreffe. «Das Medikament wirkt nur kurz. Sobald die Wirkung nachlässt, kann es für den Patienten wieder gefährlich werden.» Deshalb werde der Nasenspray derzeit nur als Notfallmedikament gehandelt oder sei rezeptpflichtig zu beziehen.
Liegend anwendbar
Bis jetzt produziert John Fröhlich Naloxon erst für die Stadt und für die eigene Apotheke. Denn es ist in der Schweiz gegenwärtig nicht als Arzneimittel zugelassen. Fröhlich sagt, das liege wohl an der geringen Nachfrage. Denn bisher sei in der Stadt noch kein Fall von synthetischem Opioid festgestellt worden.
Dass Apotheken Medikamente herstellen, die keine Zulassung haben, ist nichts Ungewöhnliches. Fröhlich sagt, es sei sogar notwendig, wenn Engpässe bei schwierig lieferbaren Medikamenten entstehen. Das sei besonders bei Medikamenten für Kinder der Fall. Fröhlich produziert deshalb regelmässig Sirups und andere orale Medikamente für das Kinderspital. Aber die Produktion von Nasensprays, das sei seine Passion.
Bereits im vergangenen Jahr hat Fröhlich für Testzwecke eine kleine Menge der Sprays produziert. Diesen Monat folgt nun der Auftrag der Stadt. Die Kosten pro Spray liegen bei unter 30 Franken. Und die tausend Stück sind wohl schnell hergestellt. Denn Fröhlich sagt, im Notfall könne seine Apotheke bis zu fünfhunder Stück pro Stunde produzieren.
Die Naloxon-Sprays unterscheiden sich von gewöhnlichen Nasensprays, da sie aus allen Richtungen genutzt werden können – auch im Liegen. Im Spray sind zwei Dosen des Wirkstoffs enthalten, à je 0,2 Milliliter. Die Nasensprays können besonders in Notsituationen lebensrettend sein. Denn bei Sprays gelangen Wirkstoffe schnell in das Blut sowie in das zentrale Nervensystem.
Die Stadt Zürich hat die Produktion von tausend Nasensprays in Auftrag gegeben.
Aus der Schliessung des Lettens hat Zürich viel gelernt
Mit Naloxon allein lässt sich eine Opioid-Krise allerdings nicht bewältigen. Das weiss auch Mehdi Safavi. Deshalb hat die Stadt weitere Massnahmen eingeleitet. Gleich vier Stadträte präsentierten sie am Mittwoch an einer Pressekonferenz. So sollen Marktmonitoring, Schnelltests und gezielte Sensibilisierungsmassnahmen mehr Sicherheit gewährleisten. Und die angepasste medizinische Versorgung soll für die Betroffenen einen besseren Zugang zu Notfallmedikamenten und angepassten Therapieangeboten ermöglichen.
Die Zürcher Behörden wollen Elendsszenen wie Anfang der Neunzigerjahre unbedingt verhindern. Denn die Schliessung des Letten jährt sich Mitte Februar zum dreissigsten Mal.
1993 formierte sich um den ehemaligen Bahnhof Letten eine riesige Elendsszene. Zu jeder Tages- und Nachtzeit versammelten sich etwa 300 Dealer und 800 Fixer. Rund 300 Drogentote pro Jahr verzeichnete Zürich Anfang der 1990er – in den schlimmsten Zeiten waren es mehr als einer pro Tag. Die Folgen des Konsums – Überdosis, Infektionen, Aids, Hepatitis – es waren damals die häufigste Todesursache von Schweizerinnen und Schweizern mittleren Alters.
Bei Fentanyl will man es besser machen.
Safavi war deshalb Teil einer Zürcher Delegation, die 2023 nach San Francisco reiste, um sich ein Bild der Opiod-Krise in den USA zu machen. «Wir wollten uns auf eine allfällige Fentanyl-Welle in der Schweiz vorbereiten.»
«Die Reise war eher eine Bestätigung dafür, dass das, was wir vor 30 Jahren initiiert haben richtig war», sagt Safavi. Aus der Not am Platzspitz und am Letten entstand in den Neunzigerjahren eine radikal neue Drogenpolitik.
Neben der Repression des Drogenhandels, der Prävention von Konsum und der Therapie von Süchtigen stand dabei die Schadensminderung im Zentrum. Also der kontrollierte Konsum, jenseits von Beschaffungskriminalität und unhygienischen Zuständen.
Dieser Mix wurde unter dem Namen «Vier-Säulen-Modell» zur nationalen Drogenpolitik – und machte die Schweiz international zum Vorbild. All das müsse weitergepflegt werden, sagt Safavi. Das bewahre die Schweiz vor Zuständen wie in den USA.
Zwischen den beiden Gesundheitssystem gibt es grosse Unterscheide. Dass in den USA überall Naloxon verteilt werde, hat laut Safavi damit zu tun, dass die amerikanische Gesundheitsversorgung an einem Punkt stehe, an dem es nicht mehr ohne solche drastischen Massnahmen gehe. Um die Gesundheitsversorgung in der Schweiz stehe es anders – deshalb werde dies hier nicht nötig sein.