Die Baugeschichte des Prestigeprojekts in der Normandie steckt voller Skandale. Nun klappt es auf der Zielgeraden nicht einmal mit einem Besuch des französischen Präsidenten.
Es soll wohl einfach nicht sein: Seit drei Wochen versucht der französische Präsident Emmanuel Macron, den neuen Reaktor des Atomkraftwerks Flamanville in der Normandie zu besuchen. Doch nachdem der ursprüngliche Termin Mitte Mai wegen Unruhen im Überseegebiet Neukaledonien nicht stattfinden konnte, wurden auch die nachfolgenden beiden Termine wegen des vollen Kalenders des Staatsoberhauptes abgesagt.
Wann Macron nach Flamanville reisen wird, ist derzeit ungewiss. Aber darauf kommt es am Ende auch nicht an. Schliesslich erfolgt die Einweihung des Reaktors nicht ein paar Wochen zu spät, sondern ganze zwölf Jahre. Und ein glanzvolles Ereignis wird sie kaum sein – zu gross sind die Skandale, die ihr vorausgingen.
Eine Verschiebung nach der anderen
Bereits im Jahr 2005 beschloss der staatliche Stromkonzern Électricité de France (EdF), die in die Jahre gekommenen Reaktoren des AKW an der französischen Westküste durch einen technologisch fortschrittlicheren Druckwasserreaktor zu ersetzen. Der sogenannte Evolutionary Power Reactor (EPR) sollte eine Nettoleistung von 1600 Megawatt erbringen und zum Exportschlager der französischen Nuklearindustrie werden. Der zuständige Atomenergiekonzern Areva sprach von einem «Rolls-Royce du nucléaire».
2007 wurde mit dem Bau begonnen, fünf Jahre später hätte der Reaktor fertig sein sollen. Doch dazu kam es nicht. Kurz nach Baubeginn erklärte Areva, dass die Bauzeit sich um ein Jahr verlängern würde. In den folgenden Jahren wurde die Eröffnung des Reaktors auf 2014 und schliesslich 2015 verschoben, die veranschlagten Baukosten stiegen von 3,3 auf 6 Milliarden Euro.
Im Jahr 2012 gab der italienische Konzern Enel seinen 12,5-Prozent-Anteil an dem Projekt zurück und erklärte, der Reaktor werde wegen der hohen Investitionskosten nie wirtschaftlich sein. Da nahm die Misere aber gerade erst ihren Anfang: 2014 wurde die Inbetriebnahme auf 2017 verschoben, bei geplanten Kosten von 8,5 Milliarden Euro.
Mangelhaftes Material verzögert die Fertigstellung
Bald darauf zeigte sich, dass der «Rolls-Royce» eine ganze Reihe an Reparaturen braucht: 2015 informierte die Atomsicherheitsbehörde ASN über eine Reihe von Materialfehlern, darunter Schwächen bei den Sicherheitsventilen und mangelhafter Stahl, der zu Rissen im Druckbehälter hätte führen können.
Im Jahr 2018 hiess es dann, Probleme an den Schweissnähten seien schlimmer als erwartet. Die nötigen Reparaturen verzögerten die Inbetriebnahme des Reaktors auf Ende 2022. Doch auch dieser Termin konnte nicht eingehalten werden: Ein Teil der installierten Reaktorsteuerung funktionierte nicht.
Nach all diesen Verzögerungen konnte der Reaktor, als er im Frühjahr dieses Jahres dann endlich so weit war, nicht mehr auf Präsident Macron warten. Anfang Mai begann die Befüllung mit Brennstäben, im Laufe des Sommers soll der Reaktor ans Stromnetz angeschlossen werden.
Die Kosten trägt am Ende der Staat
Die Kosten für das Unterfangen belaufen sich laut der jüngsten Schätzung des französischen Rechnungshofes auf insgesamt 19,1 Milliarden Euro – und damit auf fast das Sechsfache des ursprünglich veranschlagten Betrags. Bereits im Juli 2020 hatte der Rechnungshof einen Bericht zu dem Projekt publiziert, der von einem finanziellen Debakel sprach.
Die Analyse zwinge zu einem grundsätzlichen Überdenken der französischen AKW-Politik, bilanzierte der Rechnungshof-Präsident Pierre Moscovici. «Die EdF hat bei der Lancierung des EPR-Programms die eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten überschätzt und die Kosten und ungelösten Probleme unterschätzt.»
Die EdF, die zu 83,6 Prozent dem französischen Staat gehört, hat stets gesagt, die Mehrkosten nicht alleine tragen zu wollen. Schliesslich war es der Konzern Areva, der mangelhafte Bauteile lieferte. Doch dieser existiert seit 2018 in seiner ursprünglichen Form nicht mehr. Um die Pleite des Atomkonzerns zu verhindern, hat der Staat ihn mit einer Subvention von 4,5 Milliarden Euro sozusagen freigekauft und in mehrere Teilgesellschaften aufgeteilt. Die Reaktorbausparte wurde in die EdF integriert, die seither unter dem Namen Framatome 75 Prozent des Konzerns hält.
Damit dürfte der Staat einen Grossteil der Baukosten tragen müssen. Ohne diese indirekte Staatsgarantie wäre das Flamanville-Projekt ohnehin längst gescheitert. Denn der dort produzierte Strom wird laut dem Rechnungshof 110 bis 120 Euro pro Megawattstunde kosten, doppelt so viel wie jener aus den 56 Reaktoren des bisherigen nationalen AKW-Parks.
Jedes Jahr ein neuer Reaktor
Für EdF war der Bau des Reaktors trotz allem kein Fiasko. Denn der Aufschwung der französischen Atomindustrie hat gerade erst begonnen. Ende vergangenen Jahres kündigte das Unternehmen an, im nächsten Jahrzehnt mindestens einen Reaktor pro Jahr bauen zu wollen. Seit Putins Einmarsch in die Ukraine und der daraus folgenden Energiekrise fühlt sich Frankreichs Regierung mehr denn je bestärkt in ihrer Überzeugung, dass es nur mit der Kernkraft gelingt, die Erderwärmung zu stoppen.
«Zum ersten Mal seit Jahrzehnten werden wir wieder Reaktoren bauen», sagte Emmanuel Macron vor zweieinhalb Jahren in einer Fernsehansprache. Zusätzlich zu sechs bereits geplanten Atomkraftwerken sollen acht weitere AKW gebaut werden, um Kohlekraftwerke zu ersetzen. Fast 100 Milliarden Euro kostet diese Offensive.
Ob diese Reaktoren tatsächlich im Laufe der 2030er Jahre fertig werden, darf angesichts der jüngsten Projekte wohl bezweifelt werden. Mit dem Bau des Atomkraftwerks Hinkley Point unweit der südenglischen Stadt Bristol etwa begann EdF ebenfalls 2007. Das Kraftwerk hätte 2017 eröffnet werden sollen. Anfang dieses Jahres wurde der Termin zum wiederholten Mal verschoben, auf das Jahr 2029.
Und auch in Flamanville sind die Bauarbeiten noch nicht beendet. Zwar hat die ASN trotz Schwachstellen im Druckbehälter dessen Inbetriebnahme erlaubt, aber nur, wenn nach dem ersten Betriebszyklus der Deckel ausgetauscht werde. 2025 soll das geschehen – so zumindest der gegenwärtige Plan.