Die hochgelobte Limmattalbahn muss den Betrieb einschränken. Das zeigt grundlegende Schwächen des ÖV-Projekts auf.
An einem Dienstag Mitte Mai, kurz nach 9 Uhr morgens, rammt ein Lastwagen beim Shoppingcenter Tivoli die Limmattalbahn frontal. Der Chauffeur hat mutmasslich ein Rotlicht übersehen. Fünf Personen werden verletzt. Die Wucht des Aufpralls lässt die Strassenbahn aus dem Gleis springen. Ein Foto der Aargauer Kantonspolizei zeigt das beschädigte Tram. Es steht auf der Strasse, neben der Spur.
Seither fährt die Bahn nicht mehr, wie sie sollte.
Ein Viertel der dreizehn Kilometer langen Strecke zwischen Killwangen und Altstetten wird nicht mehr bedient, und das noch mindestens bis Ende Juni. Der direkte Anschluss an den Bahnhof Altstetten, stets ein wichtiges Argument für den Bau der teuren Bahn, funktioniert nicht mehr.
Der Grund ist simpel: Es fehlt an Fahrzeugen. Der Unfall legt die Schwächen des ÖV-Projekts schonungslos offen. Die Limmattalbahn, vor eineinhalb Jahren mit viel Pomp in Betrieb gegangen, ist ungenügend aufgestellt. Und sie transportiert auch bei weitem nicht so viele Passagiere, wie das die Behörden einst angekündigt haben.
Problem Nummer 1: zu wenig Fahrzeuge
27 Unfälle verzeichnete die Bahn im ersten Betriebsjahr, davon waren 16 Kollisionen mit Autos und Lastwagen. Michael Briner, Sprecher der Aargau Verkehr AG (AVA), die die Limmattalbahn betreibt, spricht von Verbesserungsbedarf bei zwei Unfallstellen. Würden an diesen Orten Bahnschranken statt Rotlichter eingerichtet, werde sich die Situation verbessern. Darauf arbeite man hin.
Im Vergleich zu anderen Strecken auf Stadtgebiet gab es nicht überdurchschnittlich viele Unfälle. Das wahre Problem ist der Fuhrpark. Die Limmattalbahn verfügt nur über acht Fahrzeuge. Der Tivoli-Crash war der zweite Unfall in kurzer Zeit. Deshalb sind nur noch sechs Wagen verfügbar.
Auf den Ausfall eines Gefährts kann man reagieren – auf einen zweiten schon nicht mehr. Deshalb hat die AVA entschieden, die Strecke zu verkürzen und bereits bei der Station Geissweid enden zu lassen, ausserhalb der Zürcher Stadtgrenze in Schlieren.
Hätte die AVA grössere Reserven, wäre diese Einschränkung nicht nötig. Nur: Fahrzeuge, die ungenutzt herumstehen, widersprechen dem Ziel eines effizienten und kostengünstigen Betriebs.
Briner spricht von einem «unglaublichen Pech», dass in kurzer Zeit gleich zwei Fahrzeuge auf der ganzen Länge aufgeschlitzt worden seien. An dieser Einschätzung hegen Branchenkenner allerdings Zweifel. Sie sehen das Grundübel in der viel zu kleinen Flotte.
Dies wiederum geht auf einen politischen Entscheid der Behörden zurück: Man wollte den Betrieb nicht den grossen Stadtzürcher Verkehrsbetrieben (VBZ) übergeben. Diese hatten sich vor Jahren ebenfalls um den Auftrag beworben, die Strecke zu betreiben.
Doch die Kantone Zürich und Aargau sowie das Bundesamt für Verkehr entschieden sich für die kleinere BDWM Transport AG mit Sitz in Bremgarten, Betreiberin der Bremgarten-Dietikon-Bahn. Daraus ging 2018 die AVA hervor.
Hätten damals die VBZ den Auftrag erhalten, wären sie heute problemlos in der Lage, den Ausfall von zwei Fahrzeugen im Limmattal mit anderen Fahrzeugen aufzufangen. Dies liegt angesichts der Grösse des VBZ-Fuhrparks auf der Hand.
Und noch ein Entscheid aus der Vergangenheit wirkt sich nun aus: Anders als die Trams der VBZ ist die Limmattalbahn mit sogenannten Zweirichtungsfahrzeugen unterwegs. Auf jeder Seite hat es einen Führerstand. Das hat den Vorteil, dass die Limmattalbahn keine Wendeschleifen benötigt, was Platz spart. Aber es hat den Nachteil, dass sie von ihrem grossen Nachbarn, den VBZ, keine Fahrzeuge ausleihen kann.
Zwar betreibt die AVA mit der Bremgarten-Dietikon-Bahn eine zweite Linie mit Zweirichtungsfahrzeugen im Portefeuille. Doch technisch sind die Systeme nicht kompatibel. Auch von dieser Seite ist also keine Hilfe zu erwarten.
Ist die Bahn schlicht zu klein konzipiert? Auf Anfrage wiederholt die AVA das Argument, es handle sich bei den Unfällen um «zwei absolut unvorhersehbare Ereignisse in einem engen Zeitraum».
Problem Nummer 2: zu wenig Passagiere
Neben der Unfallserie zeigt sich ein Jahr nach Inbetriebnahme ein zweites Problem: Die Fahrgastzahlen entwickeln sich nicht wie gewünscht. Zwar freuten sich die AVA kürzlich in einer Mitteilung über «eine hohe, über den Erwartungen liegende Nachfrage» im ersten Betriebsjahr.
Die Zahlen sprechen aber eine andere Sprache: 15 739 Personen pro Tag haben die Bahn letztes Jahr benutzt. Damit liegt sie deutlich unter den erwarteten 25 000 bis 40 000 Passagieren täglich, die die Behörden im Vorfeld stets kommuniziert haben.
Die Erklärung dafür, weshalb trotzdem Jubelmeldungen verbreitet wurden, liefert auf Anfrage der NZZ der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV). Man habe 2021 zusammen mit der AVA und dem Kanton Aargau «eine Schätzung der damaligen Fahrgastfrequenzen gemacht».
Die Verantwortlichen haben das Ziel also kurzerhand nach unten korrigiert – um es danach auf wundersame Weise zu übertreffen.
Auch der Kostendeckungsgrad der Limmattalbahn liegt mit 57 Prozent deutlich unter dem ZVV-Schnitt von 60 Prozent. Für die Stadtbahn, die die Limmattalbahn sein soll, ist der Wert tief. Zum Vergleich: Die VBZ verzeichnen einen Kostendeckungsgrad von über 70 Prozent, vor der Pandemie waren es gar über 80 Prozent.
Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass die Behörden gegenüber der Bevölkerung stets von 25 000 bis 40 000 Passagieren sprachen – im Kanton Zürich war dies bei zwei Urnengängen über die Limmattalbahn 2015 und 2018 der Fall. Die Bevölkerung stimmte jeweils deutlich für den Bau der Bahn.
Der ZVV schreibt, es sei die langfristige Prognose kommuniziert worden, «da solche Infrastrukturprojekte nicht die Aktualität, sondern die zukünftige Entwicklung im Blick haben».
Jene Kritiker, die angesichts bestehender S-Bahn- und Busverbindungen im Limmattal den Bedarf an einer Stadtbahn grundsätzlich in Zweifel zogen, dürften die Zahlen nicht überzeugen. Jedoch ist es bezüglich Passagierzahlen noch zu früh für ein Fazit. Die Planer gingen davon aus, dass im Limmattal in den kommenden Jahren kräftig gebaut wird – und dass die zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner die Bahn benutzen werden. Diese Annahme kann sich noch bestätigen.
Mit mehr Passagieren würde sich auch das Problem der Fehleranfälligkeit entschärfen. Denn höheres Fahrgastaufkommen würde es rechtfertigen, die Limmattalbahn vom heutigen Viertelstunden- auf den anvisierten Siebeneinhalb-Minuten-Takt umzustellen. Ein engerer Takt würde eine grössere Flotte mit sich bringen. Dann fiele ein einzelner Ausfall weniger ins Gewicht.
Nur: Gemessen an den heutigen Passagierzahlen dürfte es noch lange dauern, bis es so weit ist. Und so lange kann ein doppelter Ausfall von Fahrzeugen, wie gegenwärtig geschehen, gemäss Branchenkennern jederzeit wieder vorkommen.
Das jetzige Szenario könnte sich also noch ein paar Mal wiederholen.
Bei verkürzter Strecke fährt die Bahn zu zwei Dritteln auf Aargauer und nur zu einem Drittel auf Zürcher Boden. Von ihrer Bahn haben die Zürcher dann nicht besonders viel. Dabei haben sie über die Hälfte der Baukosten von 755 Millionen Franken berappt.