Ein Sprecher aus dem Büro des israelischen Ministerpräsidenten soll streng geheime Militärdokumente an die deutsche «Bild»-Zeitung weitergegeben haben. Mutmasslich ging es darum, ein Geiselabkommen zu hintertreiben.
Neben Israels Mehrfrontenkrieg beherrschte in den vergangenen Tagen ein innenpolitisches Drama die israelischen Schlagzeilen: ein Geheimnisverrat aus der Entourage von Benjamin Netanyahu, in dessen Zentrum ein Mediensprecher aus dem Büro des Ministerpräsidenten und die deutsche «Bild»-Zeitung stehen.
Die Rekonstruktion des verworrenen Polittheaters beginnt mit einer Tragödie am 1. September. An diesem Tag teilt die israelische Armee mit, die Leichen von sechs Geiseln im Gazastreifen entdeckt zu haben, die von der Hamas mit Kopfschüssen exekutiert worden seien. Hunderttausende Israeli gehen auf die Strasse, die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf, um abermals ein Abkommen mit der Hamas für die Freilassung der Geiseln zu fordern.
Sie werfen Netanyahu vor, an einer Übereinkunft gar nicht interessiert zu sein und die Verhandlungen immer wieder bewusst torpediert zu haben. Der Ministerpräsident hingegen macht die Terrororganisation für das Scheitern der Gespräche verantwortlich. Wenige Tage nach der Hinrichtung der Geiseln erscheinen im britischen «Jewish Chronicle» und in der deutschen «Bild» zwei Berichte, die Netanyahus Erzählung zu stützen scheinen.
Mitarbeiter aus Netanyahus Büro verhaftet
Laut dem «Jewish Chronicle» soll ein geheimes Dokument enthüllt haben, dass der inzwischen getötete Hamas-Chef Yahya Sinwar plante, die Geiseln via Ägypten nach Iran zu schmuggeln. Der Bericht untermauert scheinbar Netanyahus Forderung, weiterhin die Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen zu kontrollieren – dies ist einer der grössten Streitpunkte in den Verhandlungen.
Fast zeitgleich schreibt die «Bild» unter Berufung auf ein angeblich «geheimes Kriegspapier des Terror-Bosses», dass Sinwar kein Interesse an einem Abkommen habe und den Krieg fortsetzen wolle, um den Druck auf Israel zu erhöhen. Laut der «Bild» wurde das Dokument auf einem Computer Sinwars gefunden. Zwei Tage nach der Veröffentlichung erwähnte Netanyahu selbst explizit die «Bild»-Berichterstattung.
«Die Artikel haben die öffentliche Meinung in Israel recht effektiv beeinflusst», sagt Gideon Rahat, Politikwissenschafter an der Hebräischen Universität Jerusalem, im Gespräch. In Israel sei die Information als neutral angesehen worden, weil sie von ausländischen Akteuren gekommen sei.
Das einzige Problem: Beide Berichte sind offenbar mindestens verfälscht. Die israelische Armee untersuchte das Leak sofort. Der Artikel des «Jewish Chronicle» erwies sich als eine Fälschung, die Zeitung löschte den Artikel. Das angebliche Dokument hat nie existiert.
Der «Bild»-Bericht basiert laut den israelischen Streitkräften (IDF) nicht auf einem Dokument von Sinwars Computer, sondern ist «eine Empfehlung von einem Hamas-Kommandanten in den mittleren Rängen». Gemäss einem Bericht der israelischen Zeitung «Ynet» wurde zudem der Hauptteil des Dokuments, wonach die Hamas kein Interesse an einem Abkommen habe, gefälscht. Der «Bild»-Bericht ist weiterhin auf der Website von Europas grösster Zeitung abrufbar.
Auf Anfrage sagt ein «Bild»-Sprecher, dass sich die Zeitung grundsätzlich nicht zu ihren Quellen äussere. Die Frage, ob ein Teil des fraglichen Papiers verfälscht worden sei, beantwortet die Zeitung nicht explizit. «Die Echtheit des uns bekannten Dokumentes hatten die IDF gleich nach Veröffentlichung bestätigt», schreibt der Mediensprecher in einer E-Mail.
Die Veröffentlichung des Dokuments hat nun juristische Konsequenzen: Am Sonntag wurde bekannt, dass Eli Feldstein, ein Mediensprecher aus dem Büro von Netanyahu, sowie drei Soldaten wegen des Geheimnisverrats in Untersuchungshaft sitzen. Eine Anklage und ein anschliessendes Gerichtsverfahren sind wahrscheinlich.
Den Verdächtigen droht lebenslange Haft
Ihnen wird vorgeworfen, die geheimen Dokumente weitergegeben und so die Sicherheit des Staates gefährdet zu haben – oder von dem Geheimnisverrat gewusst und nichts dagegen unternommen zu haben. Falls die vier Personen verurteilt werden, könnte ihnen eine lebenslange Gefängnisstrafe drohen.
Laut übereinstimmenden Medienberichten in «Haaretz» und «Ynet» soll Feldstein das fragliche Dokument von einem Reservisten zugespielt bekommen haben. Danach habe er das Papier israelischen Journalisten geschickt. Diese hätten allerdings Zweifel angemeldet und wegen der in Israel geltenden Militärzensur auf eine Veröffentlichung verzichtet. Daraufhin soll sich Feldstein an die «Bild» gewandt haben.
Schon kurz nach der Veröffentlichung des «Bild»-Artikels berichteten israelische Medien, das angebliche Sinwar-Dokument sei verfälscht. Daraufhin soll sich Feldstein wieder mit dem Reservisten getroffen haben, der ihm das Originalpapier sowie zwei weitere als «streng geheim» eingestufte Dokumente übergab. Diese Dokumente wurden vor drei Wochen bei einer Razzia in Feldsteins Haus von der Polizei gefunden, als sie den Sprecher verhafteten.
Wie gefährlich wird der Skandal für Netanyahu?
Laut israelischen Medienberichten arbeitete Feldstein offiziell für den Generaldirektor von Netanyahus Büro, war aber nicht direkt dort angestellt. Der Grund: Der ehemalige Mitarbeiter des rechtsextremen Ministers Itamar Ben-Gvir hatte einen Lügendetektortest nicht bestanden und daher keine Sicherheitsfreigabe erhalten. Trotzdem war Feldstein offenbar in engem Kontakt mit Netanyahu. Auf zwei Fotos ist zu sehen, wie er bei öffentlichen Auftritten hinter dem Ministerpräsidenten steht.
Netanyahu streitet bis heute jede Verbindung zu Feldstein ab. Sein Büro habe das veröffentlichte Dokument nie von der Armee erhalten, hiess es in einer Mitteilung. Netanyahu selbst habe nur über die Medien davon erfahren.
Der Politikwissenschafter Gideon Rahat glaubt nicht, dass der Skandal Netanyahu gefährlich werden könnte – selbst wenn ein Gericht beweise, dass Feldstein auf Geheiss des Regierungschefs gehandelt habe. «Netanyahu ist ein Populist, der seinen Anhängern verspricht, gegen den sogenannten ‹deep state› zu kämpfen», sagt er. «Genauso wird er es der Öffentlichkeit präsentieren: Die Gerichte und die Sicherheitsdienste wollen ihn stürzen – obwohl er doch ein rechtmässiger Anführer des Volkes ist.»
Genau diese Taktik scheint Netanyahu nun zu verfolgen. Als er am Montagabend am Rednerpult des israelischen Parlaments stand, warf er der Justiz Voreingenommenheit vor: «Jeder sieht, was hier vor sich geht», sagte er. «Die Öffentlichkeit ist nicht dumm, das Volk ist nicht dumm.»








