Ein junger Zürcher driftet in eine düstere Parallelwelt ab – mit fatalem Ausgang.
Am Ende der Gerichtsverhandlung steht Alex Simons (Name geändert) auf und redet. Zu dem jungen Mann, den er niedergestochen hatte, sagt er: «Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Sie so schwer verletzt habe. Es war nicht meine Absicht.» Er habe aus purer Angst gehandelt.
Er habe sich damals verrannt, in einer schwierigen Phase seines Lebens. «Wenn ich heute auf diese Delikte zurückblicke, dann sehe ich einen jungen, unsicheren Mann, der nicht mit Ereignissen, die auf ihn einprasselten, umgehen konnte.»
In den Stunden davor schweigt Simons vor dem Bezirksgericht Zürich. Auch als der Richter ihn fragt, was für ihn der Slogan «White Lives Matter» bedeute, warum er ein T-Shirt mit einer solchen Aufschrift getragen und weshalb er zugestochen habe. Seine Antwort lautet immer gleich: «Keine Aussage.»
Es geht in dieser Geschichte um einen jungen Mann aus prominentem Haus, der in eine düstere Parallelwelt abdriftet. Und der an einem späten Nachmittag Ende Juni 2020 ein Rüstmesser zückt und zusticht. Zwei Mal trifft Alex Simons einen FCZ-Fan in den Rücken, drei Mal in Ober- und Unterarm. Nur wenig fehlt, und das Opfer der Messerattacke hätte die Auseinandersetzung nicht überlebt.
Die zentrale Frage, die das Gericht zu beantworten hat, lautet: War es eine kühl berechnete Tat eines Rechtsextremisten, die fatale Folge seiner Radikalisierung? Oder war es eine Panikreaktion und Notwehrhandlung, wie der Student sagt?
Düstere Gedanken und Hitlergruss
Simons wächst in einer prominenten Familie aus der Zürcher Kulturszene auf. Er studiert an der Universität Psychologie und Germanistik. Es ist ein scheinbar wohlbehütetes Leben. Doch irgendwann driftet der junge Mann in eine düsterere Welt ab. In eine Welt, in der Schwarze, Frauen, Homosexuelle als minderwertig betrachtet werden.
Und in eine Welt, in der rechtsextreme Massenmörder wie Anders Breivik oder der Christchurch-Täter Brenton Tarrant und Amokläufer in den USA als Helden bejubelt werden.
Breiviks Terror auf der Insel Utöya und in Oslo fielen 77 Personen zum Opfer, bei Tarrants Anschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch kamen 51 Menschen ums Leben.
Alex Simons schreibt dazu unter einem Pseudonym auf Twitter, er wünsche sich Männer wie Breivik oder Tarrant herbei. «Ach was wäre es befriedigend, einen Amokläufer all diese Menschen erschiessen zu sehen, es wäre eine Wohltat, ein Held wäre er.»
Über Monate geht das so. Mal schreibt der junge Mann: «Schwarze haben einen tieferen IQ, eine erhöhte Aggression. Schwarze haben überhaupt keine kulturelle Errungenschaft vorzuweisen, Weisse haben die Welt erfunden.» Dann findet er, jedes Antifa-Mitglied sollte öffentlich hingerichtet werden. Oder er behauptet: «Homosexuelle sind massgeblich dafür verantwortlich, dass es Aids gibt. Ziehen wir sie zur Verantwortung für ihre Taten.» Zudem gibt es Bilder, auf denen der junge Mann mit Schnurrbart und Hitlergruss zu sehen ist.
Journalisten des Magazins «Republik», die Einblick in die Untersuchungsakten hatten, beschreiben auch einen Vorfall am Frauenstreik vom 14. Juni 2019. Alex zieht sich an diesem Tag eine rote Mütze an mit dem Trump-Slogan «Make America Great Again» und ein T-Shirt, auf dem das Konterfei von Donald Trump sowie der Schriftzug «The Great White Hope» zu sehen sind.
An der Kundgebung wird er von einer Gruppe Frauen angegangen. Sie beschimpfen und schubsen Alex Simons, Unbekannte entreissen ihm seine Mütze. Simons twittert daraufhin wütend: «Ich habe heute den Faschismus wieder gesehen, er trug ein Frauengesicht und sprach von Rechten und hat mir ins Gesicht geschlagen.»
Drogen und Vandalismus
Es gibt auch ein anderes Bild von Alex Simons. In diesem anderen, öffentlichen Leben ist er der junge Mann aus gutem Haus. Unscheinbar, angepasst, fast schüchtern.
Simons wirkt in einem Film seiner Eltern mit. Sein Vater erzählt einmal, der Film sei eine komödiantische Überzeichnung. Man habe die Geschichte viel, viel weiter getrieben als im realen Leben.
Doch die Realität überholt ihn. Simons kifft, zusammen mit seinem Bruder hortet er eine grössere Menge Cannabis. Zudem konsumiert der junge Mann ab und zu auch Crystal Meth.
Manchmal zieht er mit seinem Bruder gemeinsam los. Am 7. Juni 2020, knapp drei Wochen vor der fatalen Tat, kommt es zu einem anderen Vorfall. Simons und sein Bruder packen an dem Abend eine Machete, die er zuvor gekauft hat, in eine Tasche und gehen zum Zürcher Belvoirpark. Dort hacken sie mit dem 50 Zentimeter langen Messer eine Jungbuche mit einem Stammumfang von 30 Zentimetern um. Drei Tage später schlagen sie im Rieterpark auf eine 200-jährige Linde ein und schlagen eine tiefe Kerbe in den Baum.
«Hey Jungs, das isch nöd guet»
Am 27. Juni 2020 kommt es schliesslich zur verhängnisvollen Tat, die einen jungen Mann fast das Leben kosten wird. Es ist ein warmer Sommertag, und Alex geht am späten Nachmittag zu Fuss vom Wohnort seiner Eltern zum Einkaufszentrum Sihlcity. Im Coop kauft er sich ein Mineralwasser und ein Rüstmesser mit rotem Griff – für den Haushalt seiner WG, wie er später zu Protokoll geben wird.
Er hat sich an diesem Tag ein schwarzes T-Shirt übergezogen, das er sich zuvor im Internet bestellt hat – es trägt die weisse Aufschrift «White Lives Matter». Das Shirt ist eine Provokation.
Rund einen Monat zuvor hat in Minneapolis der Afroamerikaner George Floyd sein Leben durch Polizeigewalt verloren. Es ist ein Fall, der auch in der Schweiz für Schlagzeilen sorgt und viele für die «Black Lives Matter»-Bewegung mobilisiert. In Zürich gehen Tausende auf die Strasse, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Der Slogan «White Lives Matter» ist das Gegenstück, das bei rassistischen Gruppierungen Verwendung findet.
Ist das, was Alex tut, also kalte Berechnung?
Für die Staatsanwaltschaft ist es ein klarer Fall: Simons habe gewusst, dass ums Sihlcity regelmässig Fans des FC Zürich verkehren, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung einsetzen. Er habe mit seinem T-Shirt anecken wollen, sagt die Staatsanwältin vor Gericht. «Er wollte provozieren, er kaufte das Messer, weil er mit Gegenwehr rechnete. Angst hatte er nicht.»
Tatsächlich trifft Alex auf mehrere FCZ-Anhänger, die sich an der Aufschrift stören. Die jungen Männer laufen dem Studenten nach dem Einkauf nach und stellen ihn zur Rede. Was danach passiert, darüber gehen die Schilderungen auseinander. Die Fussballfans sagen, sie hätten Zivilcourage zeigen wollen und Simons gesagt, er habe kein Recht, ein solches T-Shirt zu tragen. Simons hingegen soll seinen Gegenübern gedroht haben, es passiere etwas, sollten sie nicht weggehen. Ob es sich so zugetragen hat, bleibt unklar.
Der Verteidiger von Simons präsentiert vor Gericht eine andere Geschichte. Der Student sei nervös gewesen, er habe sich von der Gruppe junger Männer verfolgt gefühlt. Alex habe nur weggewollt und versucht, die Situation zu beruhigen. «Er handelte in einer akuten Stresssituation, die von Bedrohung, Zeitdruck, Angst und Panik geprägt war.»
Es kommt zum Handgemenge. Laut Aussage von Alex Simons drohen die FCZ-Fans ihm mit dem Tod und schlagen auf ihn ein. Seine Kontrahenten bestreiten das.
Simons gerät ins Straucheln, rappelt sich auf und zückt sein Rüstmesser. Er sticht auf einen der jungen Kontrahenten ein, fünf Mal. Einer der Beteiligten soll gesagt haben: «Hey Jungs, das isch nöd guet.» Vor und nach der Tat habe Alex gegrinst, sagt das Opfer. Es sei bloss panische Angst gewesen, sagt der Verteidiger von Simons.
Sein Opfer bezeichnet die Messerattacke vor Gericht als den schlimmsten Tag seines Lebens. Man habe mit Simons über das T-Shirt diskutieren wollen, dann sei es zum Handgemenge gekommen. «Als ich dachte, dass es beendet ist, drehte ich mich um. Ich merkte aber, dass er wieder näher kommt, und habe meine Hände zum Schutz raufgenommen. Dann hat er auf mich eingestochen.» Die Version von Alex Simons bezeichnet er vor Gericht als «von A bis Z falsch».
Nach der Tat flüchtet Alex Simons in die Wohnung seiner Eltern. Sein Opfer wird mit schweren Verletzungen ins Spital gebracht.
Minuziös sind die Folgen für das Opfer aufgelistet: acht Tage im Spital, zwei Operationen, eine davon notfallmässig, zwei Monate vollständige Arbeitsunfähigkeit, posttraumatische Belastungsstörung und Bewegungseinschränkungen am linken Handgelenk.
Staatsanwältin fordert lange Freiheitsstrafe
Seither sind fast vier Jahre vergangen. Das hat seinen Grund: Es ist bereits das zweite Mal, dass sich das Bezirksgericht Zürich über den Fall beugen muss.
Im Juli 2022 verurteilte das Gericht den Studenten schon einmal wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und Rassismus zu einer Freiheitsstrafe von 5,5 Jahren.
Doch das Obergericht wies das Urteil wegen schwerer Verfahrensmängel zurück an die Vorinstanz. Grund: Das Bezirksgericht sei nicht verfassungskonform zusammengesetzt gewesen. Die miteinander verknüpften Prozesse gegen insgesamt fünf beschuldigte junge Männer – Alex Simons, seinen Bruder sowie sein Opfer und zwei weitere FCZ-Anhänger – waren zum Teil vor einem Kollegialgericht, zum Teil vor einem Einzelrichter verhandelt worden.
Deshalb stehen die fünf jungen Männer am Freitag erneut vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Studenten neben versuchter vorsätzlicher Tötung Diskriminierung, Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit sowie Raufhandel, Sachbeschädigung und Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz vor. Sein Bruder muss sich wegen Sachbeschädigung verantworten, die drei FCZ-Fans wegen Raufhandels.
Doch etwas ist anders: Die beantragte Strafe liegt um 3,5 Jahre höher als noch beim ersten Anlauf. Die Staatsanwältin fordert eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren sowie eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 30 Franken für Simons.
Sie begründet dies vor Gericht mit dem Verhalten von Alex Simons. Es sei von einer offensichtlichen Geringschätzung des Lebens auszugehen. Die Tat zeuge von Kalkül und Skrupellosigkeit. Simons habe x-fach die Möglichkeit gehabt, sich von der Örtlichkeit zu entfernen oder um Hilfe zu bitten.
Für das Opfer und die beiden anderen angeklagten Fans verlangt die Staatsanwältin hingegen Freisprüche vom Vorwurf des Raufhandels. Der Bruder von Simons soll mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten und einer Geldstrafe verurteilt werden. Der Verteidiger von Simons fordert hingegen einen Freispruch im Hauptanklagepunkt.
Die Urteilseröffnung ist für den 16. April geplant.