Unter Druck durch Russlands Übermacht, setzen die Ukrainer auf Nadelstiche, um Unruhe zu säen. Doch Russland erhält durch die Lücken in den Reihen der Verteidiger mehr Spielraum.
Am Vorabend der russischen Präsidentschaftswahl wirkt die Lage an der Ukraine-Front so labil wie lange nicht mehr. Der Angreifer aus Moskau rückt vor, während die bedrängten Verteidiger ihn abzulenken versuchen. In den letzten Wochen fügten Ukrainer und Russen einander eine Reihe von schmerzhaften Nadelstichen zu – durch die Zerstörung von Luftverteidigungssystemen, Helikoptern, Flugzeugen und Raffinerien. Dazu kommt ein schlagzeilenträchtiger Einfall von Milizionären in grenznahe russische Dörfer.
Die Angriffe der drei für die Ukraine kämpfenden russischen Formationen begannen am 12. März im Dorf Tjotkino. Es ist nicht das erste Mal, dass solche mutmasslich dem Militärgeheimdienst in Kiew unterstellte Milizen die Grenze überschreiten. Sie zogen sich jeweils rasch wieder zurück. Erstaunlich ist deshalb, dass sich die Kämpfe auf mehrere Ortschaften in den Regionen Kursk und Belgorod ausgeweitet haben. Am Donnerstag kamen Raketen- und Drohnenangriffe auf die Städte Belgorod und Graiworon dazu. Sie forderten Tote und Verletzte. Am Abend meldeten russische Propaganda-Kanäle die Landung von Truppen mit Helikoptern.
Dass dahinter ein primär politisches Ziel steckt, verhehlen die Kämpfer nicht: Ein Angehöriger der Legion Freiheit Russlands sagte, die Angriffe sollten die Abhaltung von Wahlen in den zwei Regionen verhindern. Realistisch dürfte dies kaum sein, da die Einheiten fast direkt hinter der Grenze auf heftige russische Gegenwehr treffen. Verluste sind auf beiden Seiten dokumentiert, das Ausmass ist unklar.
Ohne Munition bleiben den Ukrainern nur Nadelstiche
Allerdings schafft die Mini-Invasion Unruhe und bindet russische Kräfte, gerade in Kombination mit weiteren Attacken. So haben ukrainische Drohnen fast gleichzeitig drei wichtige Raffinerien im Hinterland angegriffen und laut Bloomberg für den Moment zum Stillstand gebracht. Diese verarbeiten 12 Prozent des russischen Öls, was Auswirkungen auf die Benzinpreise haben könnte. Wladimir Putin nannte die Angriffe denn auch einen Versuch der Ukrainer, sich in die Präsidentschaftswahl einzumischen.
Dass solche Rückschläge ihn den Sieg kosten, muss Putin allein schon deshalb nicht fürchten, weil der Urnengang ein abgekartetes Spiel ist. Aber auch an der Ukraine-Front überwiegen derzeit die guten Nachrichten für den Kreml. Die Russen haben nicht nur mehr Soldaten, sondern auch eine überlegene Luftwaffe und Artillerie. Das Stocken der westlichen Lieferungen an Kiew bedeutet, dass die Munitionsknappheit immer dramatischere Folgen zeitigt.
Es ist kein Zufall, dass die Ukrainer in den letzten zehn Tagen gleich mehrere unerfreuliche Premieren erlebten: Den Russen gelang es erstmals, einen Himars-Raketenwerfer sowie zwei Patriot-Abschussrampen zu zerstören. Zudem vernichteten sie mindestens zwei Mi-8-Transporthelikopter.
Die Verluste sind offiziell nicht bestätigt. Es liegen allerdings mehrere Videos vor, die sie dokumentieren, und Kenner halten diese für glaubwürdig. Auch die Website «Oryx» hat die Ausrüstung in die Liste der ukrainischen Verluste aufgenommen.
2x 🇩🇪German Supplied M901 Launchers for the MIM-104 PAC-2 Mobile Patriot Air Defence System were destroyed by an Russian OTRK „Iskander“ Ballistic Missile near Sergeevka.
This is the first confirmed Loss of such pic.twitter.com/A3Ws49kgrp
— WarVehicleTracker (@WarVehicle) March 9, 2024
Patriots und Himars standen unter freiem Himmel
In allen drei Fällen haben die Russen die Systeme offenbar mehrere Dutzend Kilometer hinter der Front mit einer Drohne entdeckt und dann durch Raketen zerstört. Der Journalist Juri Butusow schreibt, dass die mobilen Himars- und Patriot-Systeme einige Zeit unter freiem Himmel gestanden hätten, während sie auf Befehle warteten. Dies habe den Russen Zeit gegeben, sie ins Visier zu nehmen. Bei den Patriots ist die Rede von drei Iskander-Raketen. Laut Butusow kamen neun erfahrene Militärangehörige ums Leben.
Wie diese Woche auch die Luftwaffe bestätigte, haben die Ukrainer seit mindestens Februar ihre modernsten Systeme näher an die Front geführt. Sie reagierten darauf, dass die russischen Kampfflugzeuge wegen der ausgedünnten Luftverteidigung eine stärkere Rolle spielen können: Hielten die Jets früher Distanz, so fliegen sie nun bis auf wenige Dutzend Kilometer heran und erhöhen die Wirkung ihrer schweren Gleitbomben des Typs FAB-1500.
Diese Waffen sind wegen ihrer Zerstörungskraft bei den Bodentruppen gefürchtet. Sie trugen massgeblich dazu bei, dass die Russen die Stadt Awdijiwka sturmreif schossen. Nun kommen sie vermehrt bei Bachmut zum Einsatz. So meldet der Blog «Reporting from Ukraine» heftige Luftangriffe auf Tschasiw Jar, eine strategisch bedeutende Kleinstadt, die als eines der nächsten Hauptziele der Russen gilt. Die Ukrainer seien verwundbar und Russland verfüge fast überall über die Initiative, schreibt das Institute for the Study of War.
Um diese zerstörerische Welle aufzuhalten, brauchen die Ukrainer mehr Mittel, besonders für die Luftverteidigung. Sie selbst haben seit Februar mehr als ein Dutzend Abschüsse russischer Jets gemeldet, von denen «Oryx» allerdings nur zwei bestätigt. Der Verlust der Patriots zeigt aber auch, dass moderne Systeme keine Wunderwaffen darstellen. Ohne genügenden Schutz durch andere Komponenten der Luftverteidigung sind sie verwundbar.