Der niederländische Schriftsteller Gerbrand Bakker schreibt einen Roman, der wie ein Spiegelkabinett vor allem Verwirrung stiftet. Es scheint, dass sich auch der Autor darin verirrt hat.
Wenn ein Schriftsteller für seinen Roman einen Schriftsteller erfindet, der ihm selbst ähnelt, und dieser erfundene Schriftsteller auch noch einen Roman schreibt, der dem Roman ähnelt, den der echte Schriftsteller am Ende tatsächlich geschrieben haben wird, dann ist Skepsis geboten. Achtung, Kunstwollen!
In seinem neuen Werk «Der Sohn des Friseurs» betreibt der Niederländer Gerbrand Bakker ein autobiografisches Verwirrspiel um einen Autor. Aber es ist nicht ganz klar, warum. Und das ist nur eine der Schwächen des Buches. Es gibt sich geheimnisvoll, wo eigentlich nicht viel Geheimnis ist.
Seit Generationen sind die Weimans Friseure in der Amsterdamer Innenstadt. Vom Frisierstuhl aus kann man auf die Grachten sehen. In den siebziger Jahren hat es einem der Vorfahren gefallen, ein bisschen französisch zu sein, und seither heisst der Laden Chez Jean. Jetzt müsste er eigentlich Chez Simon heissen, denn das ist der jüngste Spross der Dynastie. Hauptfigur in «Der Sohn des Friseurs». Sohn in einer Kette von Söhnen.
In aller Beschaulichkeit könnte das Leben dahingehen, und Simon tut auch einiges, um es nicht allzu rasant werden zu lassen. Haarschnitt gibt es nur gegen Voranmeldung, meist hängt das Schild «Fermé» an der Ladentür. Frauen schneidet Simon nicht so gerne die Haare, und zwar aus einem für Friseure fast klischeehaften Grund: Er ist homosexuell.
Schrecklicher Unfall
Flüchtige Bekanntschaften macht der frühere Leistungssportler Simon im Schwimmbad. An den Wänden seines Schlafzimmers hängen Poster von Mark Spitz und Alexander Popow. Stammkunde in Simons Salon ist besagter Schriftsteller. Er hat Romane geschrieben, deren Titel an die von Gerbrand Bakker erinnern. «Oben ist es still» heisst Bakkers Welterfolg, der 2008 auf Deutsch erschienene Vater-Roman. «Unten ist es kühl» nennt sich das Werk von Simons Kunden. «Und Sie schreiben jetzt also ein Buch über einen Friseur?» – «Vielleicht, antwortet der Schriftsteller.»
Weit führt die Kategorie dieses Wortes «vielleicht» nicht. Für sein Schreib-Projekt macht sich der Autor im Salon Notizen und orakelt darüber, wie der Roman ausgehen könnte, aber am Ende ist es auch egal, ob das alles erfunden ist. Es ist egal, ob sich Gerbrand Bakker in «Der Sohn des Friseurs» hineinporträtiert hat oder nicht. Die Handlung ist auf ziemlich spezielle Weise inkonsistent. Ist ein Trauma im Spiel?
Als Simon noch nicht geboren war, hat sich sein Vater aus dem Staub gemacht. Bei Nacht und Nebel ist er mit einem Charterflug in ein neues Leben aufgebrochen. Mit fatalen Folgen: Die KLM-Maschine gerät bei einer der grössten Luftfahrtkatastrophen der Geschichte auf der Rollbahn von Teneriffa in Brand. 583 Passagiere sterben 1977 bei dem Zusammenstoss zweier Jumbo-Jets.
Der Sohn wird als Halbwaise aufwachsen und bis in die Gegenwart des Romans seinen Vater betrauern. Simon recherchiert, durchkämmt alte Nachrichtenmeldungen, sucht nach Bildern seines Vaters. Das Feuer hat eine Identifizierung der Toten unmöglich gemacht. Auf Teneriffa und auf einem Amsterdamer Friedhof gibt es Gedenkstätten.
Was der Roman ziemlich bald verrät: Der Vater lebt. Beim Zwischenstopp in Teneriffa ist er noch vor dem Unglück von Bord gegangen. Ohne Wissen seiner Familie und ohne jemals wieder in die Heimat zurückzukehren, baut er sich auf der Kanareninsel eine neue Existenz als Friseur auf.
Zu viel Respekt vor der Realität
Bei Gerbrand Bakker liest man über zwei Leben, die wie durch eine Sicherheitstür voneinander getrennt sind. Man liest vom Einerlei eines Alltags, der auf Teneriffa im Schatten der Palmen verrinnt und in Amsterdam beim Bier in den Kneipen. Simons Vater bleibt allein. Auch der ihm unbekannte Sohn ist es auf seine Weise. Für eine betrunkene Nacht kommt Simon dem Schriftsteller auch körperlich nahe, und dann ist da noch eine phantasmagorische Affäre.
Simons Mutter beaufsichtigt geistig eingeschränkte Jugendliche beim Schwimmen. Igor, einer von ihnen, beginnt Simons erotische Einbildungskraft zu beschäftigen. Die Choreografie eines tabuisierten Umgangs miteinander zeichnet Bakker ziemlich genau nach. Das kann er. Auch Simons Gespräche mit Mutter und Grossvater scheinen eine Leerstelle zu umtasten. Aber welche? Welche Enden gehören hier zusammen?
Es ist, als stünde hinter dem Stoff von «Der Sohn des Friseurs» eine reale Geschichte, die Bakker mit zu viel Respekt behandelt, um aus ihr eine funktionierende Fiktion zu machen. Als wäre der Schriftsteller im Roman nicht erfunden, sondern der tatsächliche Augen- und Ohrenzeuge Gerbrand Bakker.
Mehr und mehr vertieft sich Simon in seine Recherchen zur Flugzeugkatastrophe. Das gibt dem Konzept der Handlung etwas Dokumentarisches, das zum atmosphärischen Rest nicht recht passen will. Bakker ist dann am besten, wenn er beobachtet, wenn er seine nüchterne Sprache auf einem Gipfel der Nüchternheit kulminieren lässt. In traurigen Dialogen, die alle Hoffnung auf Veränderung in sich aufzusaugen scheinen. Dialogen, die nur das Vergehen der Zeit und die Wirkung des «Rutte Oude»-Jenever bemänteln.
Gescheiterte Fluchten
«Der Sohn des Friseurs» hätte eine beruhigend getaktete Wirklichkeit beschreiben können. Der Salon, der seit Jahrzehnten in Familienbesitz ist, und das krisenfeste Geschäft des Haarschneidens haben hier aber nichts Beruhigendes. In grosser Nervosität zerfällt das Leben und macht schliesslich auch vor der Form des von Andreas Ecke angemessen flirrend übersetzten Romans nicht halt.
Eine Freundin von Simons Mutter macht Ferien auf Teneriffa. Als die lang erwartete Pointe, dass sie dort den verschollenen Vater entdecken wird, endlich eintritt, ist sie schon keine mehr.
«Der Sohn des Friseurs» ist ein Roman über Versuche, dem biederen Leben zu entkommen. Er schildert das grandiose Scheitern an dieser Idee, wie er leider selbst an seinen grandiosen Ideen scheitert. Statt der grossen Flucht gibt es nur ein Wimmelbild erzählerischer Fluchtpunkte, und so kommt man mit Gerbrand Bakkers neuem Werk leider am Ende nirgendwo hin.
Gerbrand Bakker: Der Sohn des Friseurs. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 286 S., Fr. 36,90.