Der Entwicklungsbiologe Michael Levin ist überzeugt, dass Zellen eigenständig Ziele verfolgen können. Diese «Intelligenz» kann heute Fröschen Augen auf dem Rücken wachsen lassen – in Zukunft könnte sie die Medizin revolutionieren.
Ein fehlendes Bein einfach nachwachsen lassen – das klingt nach einem Science-Fiction-Traum. Verliert ein Menschen ein Körperteil, kann man es bestenfalls mit einer mechanischen Prothese ersetzen. Professor Michael Levin und sein Team wollen das ändern.
Herr Levin, verlorene Gliedmassen nachwachsen lassen – das klingt verrückt. Warum glauben Sie, dass das möglich ist?
Michael Levin: Wir wissen, dass grundsätzlich auch Säugetiere «Gliedmassen» neu wachsen lassen können, denn das machen Hirsche mit ihrem Geweih. Es muss also grundsätzlich möglich sein, wir müssen nur lernen, wie. Dazu haben wir vor ein paar Jahren ein vielversprechendes Experiment gemacht. Wir haben afrikanischen Krallenfröschen ein Bein amputiert. Normalerweise wächst bei einem erwachsenen Frosch das Bein nicht nach, genau wie beim Menschen. Wir haben den Beinstumpf im Experiment 24 Stunden lang mit einem Cocktail an Medikamenten behandelt. In den folgenden anderthalb Jahren ist das Bein nachgewachsen, mit Muskeln, Knochen und Nerven.
Wie kann ein Tag Behandlung eine so lange Phase der Regeneration auslösen?
Wir haben es geschafft, ein Programm wieder anzuwerfen, das normalerweise nur während der Entwicklung der Frösche aktiv ist, wenn das Bein zum ersten Mal wächst. Das ist ein höchst komplexer Prozess, an dem viele Zellen und noch mehr Gene beteiligt sind. Aber nichts davon mussten wir im Detail steuern. Wir haben dem Gewebe einfach an Tag eins das Signal gegeben: Nimm den «Bein-bilden-Pfad», nicht den «Vernarbungspfad». Dann haben wir die Hände vom Lenkrad genommen und die Zellen selbst entscheiden lassen, wie sie das Ziel erreichen.
Die Zellen entscheiden, wie sie ihr Ziel erreichen?
Ja, Zellen und Gewebe sind intelligente Akteure. Sie haben eine Agenda, können lernen und Probleme lösen.
Ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Wir lernen schon in der Schule, dass die Erklärung für alles, was eine Zelle tut, auf der Ebene der Chemie stattfinden muss. Begriffe wie Intelligenz darf man nur für Menschen anwenden oder vielleicht noch für Delfine. Aber sicher nicht für Zellen. Ich bin davon überzeugt, dass wir anders über Intelligenz nachdenken müssen.
Zur Person
Michael Levin, Professor für Biologie
Was verstehen Sie denn unter Intelligenz?
Intelligenz ist die Fähigkeit, Ziele auf neuartige Weise zu erreichen. Diese Fähigkeit wird Zellen normalerweise abgesprochen. Während der Entwicklung vom Embryo zum ausgewachsenen Organismus zum Beispiel: Laut der traditionellen Sichtweise ist dieser Prozess genau vorgezeichnet, und die Zellen folgen stumpf den vorgegebenen Schritten. Aber ob Zellen intelligent sind oder nicht, ist keine Frage der Philosophie. Man muss es im Experiment testen. Und in vielen Experimenten haben sich Zellen eben als intelligent herausgestellt.
Wie sehen solche Experimente aus?
In einem Experiment haben wir in Kaulquappen mit feinen Instrumenten das Gewebe am Kopf umgestellt. Wir haben die Tiere Picasso-Kaulquappen genannt, weil wir alle Gewebe falsch platziert haben: den Mund auf die Seite, ein Auge oben auf den Kopf und so weiter. Wenn die Zellen starren Abläufen folgten, müsste man von dieser Startposition aus ein völlig verzerrtes Froschgesicht bekommen. Doch tatsächlich hatten die Frösche am Schluss ein ziemlich normales Gesicht. Die Information, wie ein korrektes Froschgesicht aussieht, muss also im Gewebe gespeichert gewesen sein. Und die Zellen sind neue Wege gegangen, um diesen Zielzustand zu erreichen.
Haben Sie eine Erklärung dafür, wie die Zellen das machen?
Die Zellen kommunizieren mithilfe elektrischer Signale miteinander, ähnlich wie Nervenzellen im Gehirn. Sie bilden ein Netzwerk, das Erinnerungen speichern und Vorhersagen treffen kann. So entsteht eine kollektive Intelligenz, die über die Fähigkeiten der individuellen Zellen hinausgeht, genau wie im Hirn.
Und was Sie bei Fröschen beobachten, möchten Sie auch bei Menschen nutzen?
Genau. Wir versuchen, Werkzeuge zu entwickeln, mit denen wir die Ziele von Zellen und Geweben so verändern können, wie wir das möchten. Wir möchten sie quasi zu gesundem Verhalten überreden, statt sie zu zwingen. Viele Medikamente heute muss man lebenslang einnehmen, denn sobald man damit aufhört, kehrt das Problem zurück. Unser Ziel ist es, das Gewebe davon zu überzeugen, den gesunden Zustand wieder selbst aufrechtzuerhalten.
Wie kann man denn Zellen von etwas überzeugen?
Wir kapern die Schnittstelle, über die die Zellen miteinander kommunizieren: die biochemischen und bioelektrischen Sensoren auf der Zelloberfläche. Mit einem Farbstoff, der auf elektrische Spannung reagiert, können wir elektrische Muster im Gewebe sichtbar machen. Dann können wir sie mit bestimmten Wirkstoffen verändern.
Und was passiert dann?
Bei einem Froschembryo kann man durch den Farbstoff ein Muster in der Spannung der Zellen sehen, dort, wo einmal das Auge entsteht. Wir haben dieses Muster an einer anderen Stelle im Embryo nachgemacht. So konnten wir Kaulquappen dazu bringen, ein Auge im Bauch oder auf dem Rücken zu entwickeln. Indem wir das bioelektrische Muster umschreiben, können wir bestimmen, was die Zellen wo bauen. In einem anderen Experiment brachten wir Flachwürmer dazu, zwei Köpfe auszubilden oder den Kopf einer anderen Spezies. Und all das, ohne in die DNA einzugreifen.
Sind die Gene also weniger wichtig, als wir denken?
Die Gene sind schon wichtig, aber sie bestimmen quasi die Hardware des Lebens, während die Bioelektrizität die Software ist. Unsere heutige Medizin ist enorm auf die Hardware konzentriert. Die Gentechnik zum Beispiel ist beeindruckend. Aber sie ist vergleichbar mit der Arbeit mit den allerersten Computern, als man noch physisch Kabel umstecken musste, um ein Programm zu verändern. Wenn ich Ihnen heute sage, Sie müssten den Lötkolben benutzen, um am Computer von Microsoft Word auf Powerpoint zu wechseln, dann lachen Sie mich aus. Dahin müssen wir auch in der Medizin kommen: dass wir den bioelektrischen Code beherrschen und nicht mehr die Hardware ändern müssen.
Und wenn wir die bioelektrische Software beherrschen, könnten wir Gliedmassen nachwachsen lassen?
Wir könnten alle möglichen Probleme lösen: Gliedmassen oder Organe regenerieren, Krebs heilen, Geburtsfehler beheben. Bei praktisch allen Leiden ausser Infektionskrankheiten geht es letztlich um Form, und die kann man über die Bioelektrizität beeinflussen. Aber dazu müssten wir den bioelektrischen Code vollständig knacken. Davon sind wir noch weit entfernt.
Alle Ihre Experimente sind an Fröschen, Würmern, Mäusen oder anderen Tieren. Lassen sich die Erkenntnisse denn auf den Menschen übertragen?
Ja, ich denke schon. Wir haben schon erste Experimente mit menschlichen Zellen durchgeführt. Der Mensch ist in dieser Hinsicht nicht speziell komplizierter als andere Organismen. Wenn wir weiter daran forschen, glaube ich, dass wir noch in meiner Lebenszeit Menschen damit helfen können.