Waffen, Munition, Bunker: Estland bereitet sich auf das Schlimmste vor. Doch Geld allein reicht für die Sicherheit nicht aus.
Die Stimmung in Estland ist düster geworden. Drei Tage nach der Wahl von Donald Trump lobte der Verteidigungsminister Hanno Pevkur im Gespräch noch die exzellenten Beziehungen zu den USA. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: Auf die Amerikaner ist nicht unbedingt Verlass.
Der drohende Diktatfrieden in der Ukraine löst Besorgnis aus. Sollte der Krieg für Russland günstig ausgehen, sei damit zu rechnen, dass russische Einheiten in grösserer Zahl dauerhaft an Estlands Grenzen stationiert würden, schreibt der Nachrichtendienst in seinem jüngsten Jahresbericht. Die Regierung rechnet damit, dass Estland in drei bis fünf Jahren von Russland angegriffen werden könnte.
Im Grunde sind sich alle einig: Estland muss aufrüsten, und zwar schnell. Diese Woche kündigte die Regierung an, das Verteidigungsbudget im nächsten Jahr von derzeit 3,4 Prozent auf 5 Prozent des Bruttoinlandproduktes anzuheben. Zum Vergleich: Die Schweiz streitet um 1 Prozent – bis 2030.
Aufrüsten um jeden Preis – kann das gutgehen? Und gibt es überhaupt eine Alternative?
Die Wirtschaft dümpelt, die Regierung zerbricht
Im Tallinner Stadtzentrum steht seit kurzem ein Symbol des Aufschwungs: ein mehrstöckiges Geschäftsgebäude mit riesigen Fenstern und goldener Fassade. Der Name des Kolosses: «Golden Gate». Auch rundherum wird überall gebaut. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, in Estland herrsche Hochkonjunktur.
Schaut man genauer hin, zeigt sich ein anderes Bild. Viele Geschäftsflächen in der Stadt sind leer. Wenige hundert Meter vom «Golden Gate» entfernt steht eine Bauruine. Im Supermarkt suchen die Kundinnen und Kunden nach den orangen Aktionsklebern.
Die Wirtschaft Estlands befindet sich seit 2022 in einer Rezession, die Inflationsrate ist mit 5 Prozent die höchste in der Euro-Zone. Ein Wocheneinkauf kostet mittlerweile fast so viel wie in der Schweiz, die Energiepreise gehören zu den höchsten in Europa. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind die Gehälter zwar rapide gestiegen, und der Medianlohn liegt mittlerweile bei 1628 Euro. Doch ein Viertel der Bevölkerung erscheint in der Statistik als armutsgefährdet.
Der estnische Ministerpräsident Kristen Michal hat turbulente Wochen hinter sich. Es hagelt Kritik aus allen Richtungen, seine Zustimmungswerte sind im Keller. Der Vorwurf ist allerdings ein anderer, als man angesichts der angespannten sozialen Lage im Land meinen könnte: Die Regierung tue für die Verteidigung nicht etwa zu viel, sondern zu wenig, heisst es aus der Opposition. Und dann noch das Falsche.
Um die Aufrüstung zu finanzieren, kündigte die Regierung Ende des letzten Jahres verschiedene vorübergehende Steuererhöhungen an. Der Einkommenssteuersatz wurde von 20 auf 22 Prozent angehoben, die Mehrwertsteuer wird im Juli von 22 auf 24 Prozent erhöht. Hinzu kommt seit Januar eine jährliche Fahrzeugsteuer von 50 Euro, und die Einführung einer Unternehmensgewinnsteuer von 2 Prozent wurde geplant.
Anfang März ging die Koalition zu Bruch, als Michal die Sozialdemokraten aus der Regierung warf. Die liberale Reformpartei und ihr liberaler Partner Eesti 200 hatten beschlossen, die Unternehmensgewinnsteuer rückgängig zu machen. Die Sozialdemokraten wollten stattdessen die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel senken. Die Liberalen wollen in der Verwaltung sparen und russischen Staatsbürgern das Wahlrecht auf kommunaler Ebene entziehen. Die Sozialdemokraten möchten noch mehr in die Verteidigung investieren und das Wahlrecht beibehalten.
Kurz: Man war sich nur einig, dass man nirgends einig war.
Die neue rechte Regierung hat Kürzungen in allen Ministerien angekündigt. Im neuen Koalitionsvertrag werden soziale Angelegenheiten mit keinem Wort erwähnt. Der Opposition schwant Böses. Sie befürchtet einen Abbau im Sozialwesen, insbesondere im Gesundheitsbereich, der ohnehin unterfinanziert ist.
Der ehemalige sozialdemokratische Innenminister Lauri Läänemets sagte gegenüber der Zeitung «Postimees», seine ehemaligen Koalitionspartner seien dabei, den Wohlfahrtsstaat zu zerstören. Er sei sicher, dass die Hochschulbildung bald kostenpflichtig und das auf Solidarität gründende Gesundheitssystem abgeschafft werde. «Jene, die Geld haben, gehen dann zum Privatarzt, und jene, die keines haben, werden von der Versorgung komplett ausgeschlossen.»
Keine Koalition hat in Estland in den letzten Jahren eine ganze Legislatur überlebt. Die Instabilität hat Tradition, aber das Gezänk kostet Zeit – Zeit, die Estland vielleicht nicht hat. Zumal die Finanzierung nicht das einzige Problem ist.
Keine Munition, dafür ein Schwimmbad
Geld allein reicht nicht. Es braucht auch politischen Willen und durchdachte Planung. Die Regierung hat im September 1,6 Milliarden Euro für Munition bereitgestellt, ausgegeben wurde davon noch nichts. Es wurden zwar Vereinbarungen getroffen, aber noch keine Verträge unterzeichnet. Auch der Bau der baltischen Verteidigungslinie stockt in Estland, weil Landbesitzer keine Bunker auf ihrem Grundstück wollen. Gleichzeitig werden Befürchtungen laut, dass die britischen Truppen aus Estland in die Ukraine versetzt werden könnten.
Während die Öffentlichkeit über die fehlende Munition rätselt, verfolgt der Verteidigungsminister Hanno Pevkur andere Pläne. Letzte Woche wurde bekannt, dass ein Teil seines Budgets in ein Schwimmbad fliesst, das auch von den Streitkräften und den Alliierten benutzt werden soll. Es liegt zufällig im Wahlkreis von Pevkur. Die Zeitung «Postimees» rechnete vor, dass mit dem Geld 4000 155-Millimeter-Kaliber oder sechs Atacms-Raketen hätten finanziert werden können.
Einer der lautesten Kritiker der Regierung ist der ehemalige militärische Befehlshaber der estnischen Armee Martin Herem. Er trat vor einem Jahr aus Protest zurück, weil das Verteidigungsbudget aus seiner Sicht zu klein war. In einem Interview mit der Zeitung «Postimees» sagt Herem, Estland drohe erneut zum Spielball der Grossmächte zu werden. Wie 1939, als Deutschland und die Sowjetunion mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt Osteuropa unter sich aufteilten.
«Wenn die militärischen Aktionen in der Ukraine einfrieren, wird es für uns sehr gefährlich», sagt er. Russland brauche keine Erholungsphase, um erneut anzugreifen. Daher sei jetzt die Zeit zu handeln.