Jubelnde Massen, willige Erfüllungsgehilfen: Das ist das Bild, das man vom «Dritten Reich» hat. Peter Longerich vertritt in seinem neuen Buch die These, die meisten Deutschen seien keine überzeugten Nazis gewesen, sondern Konformisten.
Es galt bisher weithin als gesicherte Erkenntnis, dass die übergrosse Mehrheit der Deutschen von 1933 an bis fast ans Ende der NS-Herrschaft mehr oder minder begeisterte Anhänger Adolf Hitlers gewesen seien. Das treffe nicht zu, so die zentrale These einer eben erschienenen Studie des Historikers Peter Longerich. Die Deutschen seien vielmehr «unwillige Volksgenossen» gewesen.
Die Methode, nach der Longerich vorgeht, ist so anspruchsvoll wie gewagt. Er stützt sich nicht auf Tagebücher, Feldpostbriefe, Familienerzählungen, Aufzeichnungen diverser Autoren und Analysen von Zeitgenossen. Um die Meinungen und Stimmungen der Deutschen zu ermitteln, wertet er fast ausschliesslich Quellen aus, die vom Regime selbst stammen: Berichte der Politischen Polizei, der Verwaltung, der Justiz, der NSDAP, des Sicherheitsdiensts der SS und diverser anderer Stellen und Behörden. Die einzige regimeferne Quelle sind die Deutschland-Berichte der Sopade, der sozialdemokratischen Partei im Exil.
Es liegt auf der Hand, dass beim Umgang mit diesen Quellen höchste Vorsicht geboten ist. Die Autoren dieser Stimmungsberichte hatten verinnerlicht, dem Regime genehme Antworten zu liefern. Zugleich aber mussten sie wohldosiert kritische Stimmen wiedergeben. Denn Partei- und Staatsführung betrieben diese Art von Meinungsforschung ja nur, um hinter die Fassade öffentlich zur Schau gestellter Zustimmung blicken zu können.
Keines der zu Rate gezogenen Dokumente enthält «die» Wahrheit, zudem sind Stimmungen sehr fluide. Peter Longerich, Autor mehrerer gewichtiger Werke über den Nationalsozialismus und den Holocaust, geht mit diesem Quellenmaterial ausserordentlich sorgfältig um. Er filtert die Aussagen, legt sie übereinander, hinterfragt sie, ordnet sie ins allgemeine Lügengeschehen ein. Er skelettiert sie gewissermassen.
«Von ‹Nazifizierung› kann keine Rede sein»
Das Regime brüstete sich pausenlos damit, dass es die rückhaltlose Unterstützung der übergrossen Mehrheit der Bevölkerung geniesse. Und die Fotos und vor allem die inszenierten Filmaufnahmen, die unsere wichtigste sinnliche Quelle jener Zeit sind, scheinen diesen Befund zu bestätigen.
Longerich kommt dagegen zu einem ganz anderen Ergebnis. Zwar habe sich die Mehrheit konform verhalten, «nur war diese konforme Haltung eben nicht das Resultat innerer Überzeugung und Zustimmung». Diese habe es zu keinem Zeitpunkt der nationalsozialistischen Herrschaft gegeben: «Von einer durchgehenden ‹Nazifizierung› der deutschen Gesellschaft kann keine Rede sein», hält er fest.
Dieser ruhig vorgetragene Befund stellt natürlich eine Provokation dar, gerade in Zeiten, in denen vom extrem rechten Rand aus stärker als je zuvor der Nationalsozialismus bagatellisiert wird. Longerichs gut belegte These liegt offen quer zu dem fest gefügten Bild, das sich die liberale Gesellschaft vom Verhalten der Deutschen in der NS-Zeit gemacht hat.
Prompt haben sich mehrere Rezensenten von Longerichs Studie einige Mühe gegeben, dem Autor Geschichtsklitterung, ja Verharmlosung nachzuweisen. Er verwechsle etwa innere Reserve mit Ablehnung. Und gehe nonchalant darüber hinweg, dass der dem Buch den Titel gebende angebliche «Unwille» der Deutschen nicht dazu geführt habe, dass es etwa zu offenem Protest gegen die Verfolgung von Juden gekommen wäre. Kurz, es wird mehr oder minder subtil der Vorwurf in den Raum gestellt, Longerich exkulpiere das für den Holocaust verantwortliche Volk und habe den geschichtsrevisionistischen Weg eingeschlagen.
Mehr Neid als Entsetzen
Das ist Unsinn. Longerich beteiligt sich nicht an einer moralpolitischen Debatte, er trägt Fakten zusammen. Egal, ob die Distanz zum Regime in ethischen und politischen Wertvorstellungen wurzelt und sich in Kritik an der antisemitischen, antikirchlichen und bürgerfeindlichen Politik des Staates äussert. Oder ob sie dem Eigennutz und der Ranküne gegen bestimmte gesellschaftliche Schichten folgt und sich gegen die notorische Lebensmittelknappheit, die ständige Not der Landwirte oder das Luxusleben und die sexuelle Libertinage der Parteioberen richtet.
Longerich arbeitet, und zwar mit erdrückender Materialfülle, heraus, dass die verworrene und oft chaotische Wirklichkeit der NS-Jahre eine geschlossene Zustimmung der Bevölkerung zum Regime schlicht unmöglich machte. Dabei wird allerdings auch deutlich, dass die Klagen über materielle Nöte und der Neid auf «Bessergestellte» (schon gar wenn sie Frauen waren) ungleich stärker und massiver waren als das Entsetzen über die Verfolgung von Juden und Oppositionellen.
Fast ohne Ende dokumentiert Longerich die Beschwerden von Arbeitern über zu niedrige Löhne und zu hohe Preise, über zu hohes Arbeitstempo und ihre Benachteiligung bei den Angeboten der Freizeitorganisation «Kraft durch Freude». Nur einmal aber erwähnt er, dass sich die Arbeiter, die während der Weimarer Republik sicher mehrheitlich links gewählt hatten, über die Abschaffung der betrieblichen Mitbestimmung empörten. Die fundamentale Entrechtung wird offenbar kaum als Skandal empfunden.
An dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wird, notiert Joseph Goebbels: «Das deutsche Volk ist einig. Nun können wir der Welt gegenübertreten. Das deutsche Wunder. Man schweigt in Demut still.» Von dieser Einigkeit konnte, während das Regime bestand, zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. Das Kernstück der NS-Ideologie, die alle Klassenunterschiede versöhnende «Volksgemeinschaft», war ein einziger Bluff.
Gleichgültigkeit und dumpfes Schweigen
Auch ohne Parteienvielfalt, Organisationsfreiheit und diskursive Öffentlichkeit setzten sich die Querelen der Klassengesellschaft, oder genauer: der von Interessenvielfalt geprägten modernen Gesellschaft, fort. Stadt gegen Land. Arbeiter gegen Bauern. Privilegierte gegen Arme. Parteifunktionäre gegen die Beamtenschaft. Den Beschwerden aus dem Arbeitermilieu über das angebliche Lotterleben der Ehefrauen von Funktionären stehen die Klagen von Einzelhändlern entgegen, es gebe noch immer die als jüdische Domäne geltenden Warenhäuser, die ihnen Kundschaft wegnähmen. Die Bevölkerung befand sich, wie die Stapo Düsseldorf im Oktober 1934 besorgt registrierte, über all dies in einer «stillen Unterhaltung».
Im Grunde beweist Longerichs Buch, dass der Nationalsozialismus regelmässig das Gegenteil dessen erreichte, was er erreichen wollte. Er wollte das Volk vereinen – doch er spaltete es. In der Kirchenpolitik etwa war Hitler darauf aus, als ersten Schritt zur Entchristianisierung der Gesellschaft eine evangelische und dann eine überkonfessionelle Einheitskirche zu schaffen.
Damit scheiterte er, und ungewollt gab er dem kirchlichen Widerstand kräftig Auftrieb, etwa der Bekennenden Kirche oder den katholischen Geistlichen, die – teilweise erfolgreich – gegen die «Euthanasie» protestierten und – oft erfolgreich – die Entfernung von Kruzifixen aus Schulen bekämpften. Auch die Propaganda erwies sich als Bumerang. Mit dem Rundfunk wollten die Nazis die Seelen der Menschen kapern. Am Ende hatten sie aber keine andere Wahl, als via Rundfunk ihr militärisches Scheitern Zug um Zug öffentlich zuzugeben, allen Durchhalteparolen zum Trotz.
Longerichs Untersuchung gerät nicht zur Heldengeschichte. Die Mehrheit fürchtete früh den Krieg. Als er kam, war man bei Erfolgen der Wehrmacht vorsichtig optimistisch. Bei Niederlagen, insbesondere nach Stalingrad, setzten sich Pessimismus, Gleichgültigkeit, Resignation und dumpfes Schweigen durch. Man hoffte durchgängig auf ein schnelles Ende oder fand – das klingt fast aktuell –, ein «Kompromissfrieden sei besser als die Vernichtung des Bolschewismus um jeden Preis».
Das Rätsel bleibt
Und man war zu bemerkenswerten Zugeständnissen bereit. Einige der staatlichen Meinungsforscher brachten in Erfahrung, dass sich die Befragten mit einer Teilung Deutschlands und mit der Abtretung von Ostgebieten durchaus hätten abfinden können! Insgesamt war die Bevölkerung weit realistischer und vorausschauender als die Führung. Sie war in ihrer Mehrheit nicht widerständig, wohl aber abwartend. Und blickte früh aufs Danach.
Das Erstaunliche an Longerichs Buch besteht nicht zuletzt darin, dass aus der Auswertung der Vielzahl von Berichten in Umrissen das Bild einer Art deutscher Kollektivpersönlichkeit entsteht – einer Persönlichkeit, die der heutigen durchaus ähnlich ist. Auf die nicht wenigen Nachrichten über Mitleidsbekundungen gegenüber den zum Tragen des «Gelben Sterns» verurteilten Juden reagierte Goebbels so: «Der deutsche Bildungsspiesser ist schon ein Dreckstück.» Und: «Der deutsche Michel ist ihm nicht auszutreiben.»
Das zeigt in der Tat, wie vergeblich die Anstrengungen des NS-Systems waren, die Deutschen zu hundertprozentigen Gefolgsleuten ihres Wahns zu machen. Der deutsche Michel hat dem Nationalsozialismus getrotzt. Und ihn überlebt, bis heute. Im Blick auf die Berichte jener Zeit erkennen wir uns selbst.
Longerichs verdienstvolle Studie ist von Verharmlosung weit entfernt. Sie eröffnet einen neuen und überraschenden Blick auf die Befindlichkeit der Deutschen während der dreissiger und vierziger Jahre. Entlastend ist sie nicht. Die Mehrheit der Deutschen stand dem Nationalsozialismus offensichtlich abwartend, distanziert, zweifelnd, verwirrt, kritisch und nicht selten auch ablehnend gegenüber. Dennoch liess sie ihn – zwischen Geduld, Apathie und Gleichgültigkeit schwankend – über sich ergehen. Dieses Rätsel, das in vielen Darstellungen der Nazizeit als gelöst erklärt wurde, steht nun noch bedrückender im Raum.
Peter Longerich: Unwillige Volksgenossen. Wie die Deutschen zum NS-Regime standen. Siedler-Verlag, München 2025. 637 S., Fr. 34.90.