Der Deutsche Fussball-Bund will sich vor der Heim-EM publikumsnah inszenieren. Tatsächlich aber wird auf diese Weise effektiv eine Diskussion über die Entscheide des Trainers Julian Nagelsmann verhindert.
Am Donnerstag will der Deutsche Fussball-Bund (DFB) sein Kader für die Heim-EM vorstellen, doch nahezu die Hälfte der Spieler wird den deutschen Fussballfreunden schon vorher bekannt sein. Denn der DFB hat eine ausgeklügelte Strategie ersonnen: Täglich werden auf ungewöhnlichem Wege der Öffentlichkeit die Namen der Auserwählten präsentiert. Einer der ersten, der an die Reihe kam, war Jonathan Tah, der gegenwärtig beste deutsche Innenverteidiger von Bayer Leverkusen. Ein junger Krankenpfleger namens Rashid Hamid, der auf seinem Kanal bei Tiktok imposante 320 000 Interessenten vorweisen kann, wurde vom DFB als Medium auserkoren.
Rashid Hamid fuhr zu einer Klientin, die er als Oma Lotti vorstellte. Dieser überreichte er im Auftrag des DFB ein Trikot mit der Rückennummer 93, zudem eine Schachtel mit einer Torte, auf der das Konterfei von Jonathan Tah zu sehen ist. Dass die alte Dame den Pfleger mit dem Fussballspieler verwechselte, mag man ihr nachsehen, ebenso sollte man sich die Frage verkneifen, ob es sich hier um eine unbeabsichtigte Form der Altersdiskriminierung handelt, denn die Rückennummer 93 steht für das Alter von Oma Lotti.
Die Kunden des Bäckers erfuhren es als Erste
Das Echo war gewaltig. Zumal in loser Folge neue Namen präsentiert werden, so dass kaum Zeit bleibt, einmal zu fragen, warum der DFB ein solches Tamtam veranstaltet. Auch auf diese Weise über ihre Nominierung freuen konnten sich der Mittelstürmer Niklas Füllkrug, dessen Name bei einer Radiosendung des Westdeutschen Rundfunks bekanntgegeben wurde – von Füllkrug selber übrigens («Ich kriege Gänsehaut, wenn ich daran denke. Es macht mich so stolz») –, oder der Arsenal-Profi Kai Havertz, was vom Youtube-Trio Calcio Berlin verkündet wurde.
Von der Berufung des Stuttgarters Chris Führich erfuhren die Kunden einer Bäckerei im Schwarzwald zuerst. Die Nachricht wurde auf den Tüten des Bäckers verkündet: «Chris Führich für Deutschland! Bäckerei Seeger gratuliert Dir zur Nominierung für den deutschen EM-Kader, Chris Führich!»
Nach dem Prinzip einer Schnitzeljagd beschäftigt der DFB die deutschen Fussballfans. Dass die etwas eigenwillige Art, mit der die Hälfte des Kaders nominiert wird, für Kontroversen sorgt, verwundert nicht. Die «Süddeutsche Zeitung» erinnert kulturkritisch an die Wurzeln der Massenbelustigung im antiken Rom, das deutsche Portal des Magazins «Sports Illustrated» attestiert dem DFB, gar nichts gelernt zu haben.
Ein harter Vorwurf: Schliesslich will der Verband gerade auf diese Weise Publikumsnähe demonstrieren. Und wer es gut meint mit den Funktionären, könnte ihnen immerhin anrechnen, dass sie zumindest versuchen, mit der Zeit zu gehen und neue Kanäle zu nutzen. Dabei dürfte blosse Anbiederung nicht das alleinige Ziel der Aktion gewesen sein. Indem permanent neue Namen präsentiert werden, kann keine grundsätzliche Diskussion über die Nominierung aufkommen.
Genau das hat der Verband geschafft. Es gibt kaum eine Gelegenheit, zu fragen, warum dieser und jener nominiert wurde, die inhaltliche Auseinandersetzung findet kaum statt. So durfte sich beispielsweise Manuel Neuer, der FC-Bayern-Torhüter, über seine Nominierung freuen, die eine auf Instagram gut vertretene Dachdeckerin namens Chiara preisgab, während sein Konkurrent Marc-André ter Stegen zumindest offiziell noch gar nicht Bescheid wusste.
Keine Diskussion zur Sache kommt auf
Dabei hat Neuers jüngster Aussetzer gegen Real Madrid im Halbfinal der Champions League durchaus Anlass für Diskussionen gegeben. Und mit der Berufung des Dortmunders Nico Schlotterbeck wird der Blick auf die jüngst tadellose Leistung des Juniors in der Dortmunder Innenverteidigung gelenkt – und nicht auf die zum Teil grandiosen Vorstellungen des Seniors Mats Hummels, der sich aus blosser Leistungsperspektive mit bereits 35 Jahren ebenso Hoffnungen machen könnte (die allerdings unerfüllt bleiben dürften).
Einigen Kandidaten dürfte diese Art der Nominierung wie eine Tortur erscheinen. Zum Beispiel Leon Goretzka, dem FC-Bayern-Profi. Der hatte der Boulevardzeitung «Bild» jüngst erklärt, dass man ihn gewissermassen nachts wecken könne, um ihm die frohe Kunde zu überbringen: «Ich lasse mein Handy immer an. Bis jetzt hat es noch kein Gespräch gegeben. Ich hoffe, dass es das noch gibt.»
Allzu grosse Hoffnungen dürfte sich Goretzka nicht machen. Denn der Bundestrainer Julian Nagelsmann berief einen jungen Konkurrenten aus seinem Klubteam: Dass der 20-jährige Aleksandar Pavlovic für Deutschland an der EM dabei sein wird, erfuhr Goretzka aus einem Promi-Magazin des TV-Senders RTL.