So etwas ist man von Wissenschafterinnen nicht gewohnt: Sabine Hossenfelder forscht zu Kosmologie und Quantengravitation, hat aber auch Millionen Fans auf Youtube. Dort beantwortet sie philosophische Lebensfragen aus Sicht der Physik – und sagt, viele Ideen ihrer Kollegen seien nichts als mathematische Phantasien.
Frau Hossenfelder, dass die Physik interessante Antworten auf grundlegende Fragen bietet – wie zum Beispiel «Ist die Realität nur eine Illusion?» oder «Existiert Zeit wirklich?» –, sind die meisten nicht gewohnt. Und es passiert ja selten, dass jemand das verständlich erklärt. Sie jedoch stürzen Ihre Zuschauer in Sinnkrisen, wie man das eher von Theologen oder Philosophen erwartet. Wie machen Sie das?
Es gibt ja sehr viele populärwissenschaftliche Ansätze, die alles ein bisschen beschönigen, was wir über die Welt wissen. Ich bringe das alles nüchterner rüber, und das finden manche Leute offenbar verstörend. Ich habe ab und zu als Reaktion auf meine Bücher oder Videos sehr traurige Leserbriefe bekommen. Gerade wenn es in meinen Büchern oder Videos um Fragen geht, wie das Universum begann oder ob wir einen freien Willen haben. Ich beschränke mich dann auf die Sachen, die wir wirklich wissen. Das ist für manche Menschen ernüchternd, deshalb gebe ich inzwischen eine Vorwarnung: Bei mir wird nicht herumgeschwafelt.
Und? Gibt es einen freien Willen?
Selbst von der philosophischen Seite her ist das ja eine schwierige Fragestellung, denn wie soll man das überhaupt definieren? Deshalb gehe ich das so an: Es gibt die Naturgesetze. Und die Naturgesetze sind teilweise deterministisch. Sie sagen: Die Zukunft folgt aus der Vergangenheit, Ihre heutigen Handlungen ergeben sich aus dem Universum von gestern, das sich wiederum aus dem Zustand des Universums von vorvorgestern ergibt, und so weiter, bis zurück zum Beginn des Universums. Dann gibt es noch die Quantenmechanik, die noch ein Zufallselement mit hineinbringt. Der freie Wille – ich wüsste nicht, was das sein soll und wo der da noch hineinpassen könnte.
Also war unser Gespräch, das gerade stattfindet, vorherbestimmt seit dem Urknall?
Auf grundsätzlicher Ebene, ja. Inwieweit gelegentliche Quantensprünge das menschliche Gehirn beeinflussen, darüber streiten sich Wissenschafter allerdings.
Sabine Hossenfelder
Die theoretische Physikerin forscht zu Kosmologie, dunkler Materie sowie Quantengravitation und ist Mitglied des Munich Center for Mathematical Philosophy. Sie beschreibt und kritisiert Wissenschaft in Büchern wie «Das hässliche Universum» und ist erfolgreiche Youtuberin und Social-Media-Akteurin, die komplizierte Dinge in einfache und prägnante Worte fasst. Manchmal macht sie das sogar in Form von Musikvideos mit Monty-Python-Bezügen.
Sie sprechen von Quanten und forschen zur Quantenmechanik. Was ist das überhaupt?
Die Quantenmechanik ist die Theorie, mit der wir das Verhalten aller Teilchen im Universum beschreiben. Also das, woraus alles ist, auch Sie und ich oder das Licht, das aus Teilchen mit dem Namen Photonen besteht. Und das beschreiben wir mit einem mathematischen Objekt, das sich Wellenfunktion nennt. Damit können wir die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass wir etwas Bestimmtes beobachten werden.
Alles im Universum, Würmer, Steine, Menschen, besteht aus lauter kleinen Teilchen, deren Verhalten man berechnen kann. Sie sagen, wir seien zusammengesetzte Objekte.
Nach allem, was wir wissen, ist das Ganze tatsächlich nur die Summe seiner Teile. Das, was grosse Objekte tun, ist lediglich eine Konsequenz dessen, was viele unserer kleinen Bestandteile miteinander tun. Sie und Ihr Verhalten werden vom Verhalten all Ihrer subatomaren Teilchen bestimmt, aus denen Sie bestehen. Allein im Gehirn sind es unvorstellbare tausend Mal eine Billion Mal eine Billion Atome.
Laut Ihnen ist wirklich alles rein materieller Natur. Liebe, Träume, Erinnerungen – alles elektrische Impulse. Das mag schon etwas verstören in Zeiten von Achtsamkeit und Selbstliebe. Und Sie verärgern auch noch mit der Aussage, es gebe gar kein Jetzt. Dabei sollen wir doch waldbadend im Hier und Jetzt leben, so der Zeitgeist.
Es gibt natürlich dieses Empfinden vom Jetzt, das wir alle haben. Aber das ist ein psychologischer Effekt. In den fundamentalen Theorien gibt es dieses Jetzt nicht, zum Beispiel in Einsteins spezieller Relativitätstheorie. Denn man kann mathematisch nur ein Jetzt für einen einzelnen Beobachter definieren, nicht aber für mehrere. Jeder hat ein eigenes Jetzt. Deshalb geht man davon aus, dass das keine fundamentale Bedeutung im Universum hat. Daraus folgt, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Universum gleichzeitig existieren. Aber das hat auch Einstein sehr belastet – weil es unserer Wahrnehmung sehr widerspricht –, und er hat viel mit anderen Forschern darüber diskutiert. Bis heute haben wir keine bessere Lösung für die Beschreibung des Universums in diesem Bereich.
Wenn man Ihnen zuhört, fällt auf: Die Wissenschaft weiss gar nicht besonders viel über das Universum.
Das stimmt, und es ärgert mich manchmal, dass etwas anderes suggeriert und kommuniziert wird. Selbst Einstein sagte: «Gott würfelt nicht», und er meinte damit einen bestimmten Messprozess in der Quantenmechanik. Dieser war damals State of the Art in der Wissenschaft, aber Einstein wusste selbst, dass diese Beobachtung – hier als Würfeln bezeichnet – nicht das ist, was wirklich passiert, sondern dass wir in Wahrheit einfach noch keine Ahnung haben.
Ich dachte auch immer, es sei Stand der Wissenschaft, dass das Universum aus dem Urknall heraus entstanden sei. Doch in Wirklichkeit sei das eine völlig unbewiesene Theorie unter vielen, sagen Sie.
Ja, viele Physiker haben sich eine Vielzahl von Urknall-Theorien ausgedacht, in ganz vielen Varianten. Jeder bastelt sich da so sein Ding zusammen, da ist es auch ganz egal, was man beobachtet oder was es für Daten gibt. Es gibt viele schöne Theorien, die im Grossen und Ganzen zu den Beobachtungen passen und die sich schwer widerlegen lassen. Ob es dann wirklich der Big Bang ist oder ein Big Bounce, ein Schwarzes Loch oder das sogenannte zyklische Universum – diese Theorien haben einen Unterhaltungswert, und man kann sie auch sehr gut in sogenannten wissenschaftlichen Journalen veröffentlichen. Ein Unterhaltungswert ist auch ein Wert, das sehe ich ein – auch wenn Sie jetzt die Augenbrauen hochziehen. Ich habe allerdings dann ein Problem, wenn man das als Wissenschaft verkauft. Denn eigentlich ist so etwas eher eine Philosophie, oder es grenzt schon fast an eine Art Religion.
In Ihrem Buch «Das hässliche Universum» kritisieren Sie aus diesen Gründen die zeitgenössische Teilchenphysik, wie sie etwa am Cern in Genf betrieben wird, aber auch die Kosmologie. Was läuft falsch?
Es geht mir vor allen Dingen um die Frage, wieso wir so viele Theorien und Hypothesen haben, die falsch sind. Wenn Sie sich angucken, was alles berechnet und vorhergesagt wurde: Das Higgs-Teilchen wurde in den 1960er Jahren von Herrn Higgs vorhergesagt, das hat gestimmt. Aber seit den 1980er Jahren: Protonenzerfall, supersymmetrische Teilchen, Extra-Dimensionen, Teilchen der Dunklen Materie, das hat man alles nie erhärten können. Zehntausende wissenschaftliche Papers sind dazu entstanden, dabei waren diese Ideen nichts als mathematische Phantasie, die sich die Leute zusammenbasteln, weil sie nichts anderes zu tun haben. Eine enorme Zeit- und Geldverschwendung. In der Teilchenphysik ist dieses Problem extrem, weil sich da schon lange nichts Grosses mehr getan hat – jetzt werde ich wieder Ärger bekommen von den Teilchenphysikern. Und jetzt schwappt das Problem auch in die Astrophysik.
Es wurden doch aber viele Satelliten wie das James-Webb-Teleskop jüngst ins All geschossen. Da müsste es doch in der Astrophysik viele neue Erkenntnisse geben?
Ja, in manchen Bereichen der Physik kommen ständig neue Daten rein. Doch auch da gibt es das gleiche Problem der Theorieentwicklung: Es werden ohne Ende Papers über irgendwelche schönen Theorien geschrieben, die man sich mit viel Sorgfalt ausdenkt, damit sie irgendwie auf die Daten passen. Aber ich und auch andere Kollegen sagen schon seit vielen Jahren: Das ist Schwachsinn. Man kann nicht einfach hingehen und sich eine Mathematik zusammenbasteln, um dann zu hoffen, dass die Natur das auch am Ende so produziert.
Warum ergibt das keinen Sinn?
Es gibt unendlich viele von diesen Theorien, und die Wahrscheinlichkeit, dass eine davon stimmt, ist null. Eins durch unendlich. Wenn man diese Theorien überhaupt testen kann, schliesst man sie in der Regel aus. Doch leider hat sich diese unwissenschaftliche Herangehensweise so eingebürgert, und das lernen die Studenten, auch bei mir war das so. Dabei mangelt es nicht an der Härte der Gleichungen. Es ist eigentlich fast eine philosophische Frage: Physiker lernen, dass es okay ist, sich allen möglichen Kram zusätzlich auszudenken, der schön klingt, den es aber nicht braucht, um die Beobachtungen zu erklären. Das wird in der Ausbildung leider gar nicht besprochen. Dabei wäre das wichtig: Wann braucht es überhaupt eine neue Theorie, was ist ein gutes Kriterium dafür?
Was sollten Physiker stattdessen tun?
Ich frage mich: Was hat sich denn verändert? Denn bis in die 1970er Jahre hat die Theorieentwicklung viel besser funktioniert. Physiker haben Vorhersagen gemacht wie zum Beispiel zu Neutrinos oder dem Higgs-Teilchen, auch zu elektromagnetischen Wellen, und die waren richtig. Da gibt es zwei Gründe für die gegenwärtigen Schwierigkeiten. Ein Problem ist sicher jenes, welches früher oder später alle Wissenschaften haben: Die einfachen Sachen sind irgendwann gemacht, man muss grosse Experimente bauen, es wird schwierig und teuer, Ergebnisse zu erzeugen. Deshalb haben wir mittlerweile riesige Kollaborationen von Tausenden von Physikern und Beschleuniger, die 26 Kilometer messen.
Und das andere Hindernis?
Auf der anderen Seite ist es so: Wenn in der Vergangenheit Vorhersagen gemacht wurden auf Basis einer Theorie, die richtig war – dann war es in der Regel so, dass Physiker ausgehend von einem echten mathematischen Problem argumentiert haben. Ein berühmtes Beispiel ist Einstein, der die allgemeine Relativitätstheorie entwickelte, weil seine spezielle Relativitätstheorie nicht mit der Newtonschen Gravitation zusammenpasste. Er hat so einen mathematischen Widerspruch gelöst und fand nebenbei noch etwas Neues. Ein anderes Beispiel ist die Vorhersage elektromagnetischer Wellen. Sehen Sie sich die Gleichung für elektromagnetische Felder an. Wenn Sie das mathematisch richtig beschreiben wollen, müssen da elektromagnetische Wellen rein. Der Physiker James Maxwell hatte verstanden: Es kann nicht anders sein, dabei war das damals komplett neu. Wenn es um theoretische physikalische Vorhersagen geht, die aus der Mathematik herauskommen – dann kam das immer aus der Lösung eines Widerspruchs.
Also wie sollten Physiker konkret vorgehen, um gute Theorien zu entwickeln?
Wir sollten wieder genau das tun: Widersprüche in den Theorien korrigieren. Ich habe eine Liste von Widersprüchen, die es im Moment gibt. Einer davon ist zum Beispiel die fehlende Quantisierung der Gravitation, Details erspare ich Ihnen jetzt. Oder auch der Messprozess in der Quantenmechanik, der schon Einstein nicht gefiel und den er mit Gottes Würfeln beschrieben hat. Der Grund, warum ihm der nicht gepasst hat, war, dass der Messprozess in der Mathematik schneller als Licht ist. Dabei war es natürlich Einstein, der sagte: Nichts ist schneller als Licht. Davon gehen wir aus, benutzen aber trotzdem noch den Messprozess, der dem widerspricht. Das müssen wir lösen, und dann finden wir womöglich endlich wieder etwas Neues.