Nach drei Tagen ist der Prozess gegen den früheren Barça-Star beendet. Alves geht schwer belastet aus dem Verfahren, ihm drohen mehrere Jahre Haft.
Um 15 Uhr 15 betritt Daniel Alves an diesem Mittwoch den Saal Nummer 6 des Obersten Provinzgerichts von Barcelona. Er trägt einen dünnen weissen Rollkragenpulli, dunkle Hose, Turnschuhe und eine schwarze Brille mit Goldrand. Auf hektische Fragen der wartenden Reporter murmelt er nur ein Wort: «bien» – gut. Was einer halt so sagt. Denn gut aussehen, das tut es für ihn nicht.
Dem ehemaligen Fussballstar des FC Barcelona und Gewinner von 43 Titeln wird Vergewaltigung vorgeworfen. In der Nacht auf Silvester 2023 soll er in einem Edelklub der Stadt eine damals 23-jährige Frau in das Bad eines exklusiven Separees der VIP-Zone gelockt und dort geschlagen sowie zum Geschlechtsverkehr gezwungen haben. Für den Vorwurf fehlt der endgültige Beweis, weil es in dem Bad anders als in übrigen Bereichen der Diskothek keine Überwachungskameras gab. Aber von Klubbetreibern, Polizisten und Spurensicherung bis zu Ärzten und Psychologen haben wesentliche Zeugen seit Montag die Darstellung des mutmasslichen Opfers als kohärent gestützt.
Alves hat die Vernehmungen über die drei Prozesstage weitgehend regungslos auf der linken Sitzreihe des Saals verfolgt. Allenfalls faltete er einmal die Hände oder bewegte sich von einem Stuhl auf den nächsten, wenn Videoaufzeichnungen der Nacht gezeigt und analysiert wurden. Oder für einen Blickkontakt mit seiner Anwältin. Inés Guardiola ist bereits der dritte Rechtsbeistand, seit er vor gut einem Jahr in Untersuchungshaft eingewiesen worden ist. Wie ihre Vorgänger scheiterte sie mit sämtlichen Versuchen, ihren Mandanten aus dem Gefängnis zu bekommen. Immerhin erreichte sie zu Prozessbeginn, dass Alves’ Aussage auf den Verhandlungsschluss verschoben wurde.
Und so tritt der 40-jährige Brasilianer um 19 Uhr 15 als Letzter in den Zeugenstand. Auf die Fragen seiner Anwältin antwortet er in der Sprache seiner Wahlheimat Spanien und nicht in seinem portugiesischen Mutteridiom. «Wir hatten alle Spass», sagt er. Das Mädchen habe von sich aus beim Tanzen begonnen, seine Nähe zu suchen, dabei hätten sich die Intimzonen berührt. «Ich bemerkte eine sexuelle Spannung und fragte sie, ob wir zusammen ins Bad gehen wollten. Ich habe dort gewartet und dachte erst, sie kommt nicht. Aber dann kam sie doch.»
Alves änderte immer wieder seine Aussagen
Während des Ermittlungsverfahrens hatte Alves mehrfach seine Aussagen geändert, immer nur eingeräumt, was aufgrund der ihm vorgehaltenen Beweise nicht mehr zu leugnen war. Anfangs wollte er die Frau nicht einmal gekannt haben; erst Monate später gestand er Geschlechtsverkehr. Um seine Stellung dabei zu illustrieren, rückt er nun mit seinem Stuhl vom Pult weg. Die Frau habe ihn ausgezogen, dann oral befriedigt, sich schliesslich kurz auf ihn gesetzt. Musste er sie dazu zwingen, hat er sie geschlagen, an den Haaren gepackt? «Ich bin nicht dieser Typ Mann», behauptet Alves. Zu keinem Moment habe die Frau «Nein» gesagt oder ihn gebeten, er solle aufhören.
Seine Version schildert Alves ruhig, doch als er gefragt wird, wie er von der Anzeige erfuhr, bricht er in Tränen aus. Er habe sich freiwillig gestellt, betont er, und anfangs nur gelogen, damit seine Frau nicht von seiner Untreue erfahre. Der frühere Profi muss abbrechen und bekommt Wasser gereicht, ehe er vor dem Hintergrund der eingeforderten 150 000 Euro Kaution für einen möglichen Schadensersatz nach seiner finanziellen Situation gefragt wird. Schlecht, sagt er, die Sponsoren seien abgesprungen, Konten gesperrt. Nach einer Viertelstunde ist sein Auftritt bereits beendet.
Das mutmassliche Opfer hatte am Montag in einer nichtöffentlichen Sitzung eine Stunde länger ausgesagt. «Stichhaltig, glaubwürdig und heftig» seien die Ausführungen gewesen, betont die Staatsanwältin in ihrem Schlussplädoyer und fragt rhetorisch: «Wenn der Sex einvernehmlich war, warum hat er dann in diesem ekligen Bad stattgefunden und nicht in dem Separee mit einer gemütlichen Couch? Weil er genau wusste, was er tat.»
Das Urteil folgt bis Anfang März
Neun Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft. Zwölf Jahre als Nebenklägerin das mutmassliche Opfer. Was geschah im Bad des Separees von Tisch 6 – dieselbe Nummer wie jetzt der Gerichtssaal – der VIP-Zone der Edeldiskothek Sutton in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 2022? Das Urteil soll bis Anfang März erfolgen.
Der Fall gilt in Spanien als Prozess des Jahres – wegen der Prominenz des Angeklagten und wegen der möglichen Vorbildwirkung des Verfahrens. Laut etlichen Zeugenaussagen musste das mutmassliche Opfer viele Zweifel und Ängste überwinden, bevor sich die Betroffene überhaupt zu einer Anzeige durchrang. «Keiner wird mir glauben», habe sie zunächst immer wieder gestammelt, als sie in der fraglichen Nacht fluchtartig die Diskothek verlassen wollte – ehe sie Freundinnen, Angestellte und Polizisten zur Aussage ermutigten.
Als sie zu bedenken gab, sie habe zunächst freiwillig das Separee betreten, beruhigte sie ein Beamter: Sie könne hineingehen, wo sie wolle, ohne dass das als Einverständnis zu Sex gelte. «Deshalb wurde das Gesetz geändert» – eine Anspielung auf den in Spanien seit 2022 gültigen Grundsatz «Nur Ja heisst Ja».
Im «Sutton» war die «Anzeigenstellerin», wie sie während des Prozesses anonym genannt werden musste, am fraglichen Abend mit einer Cousine und einer Freundin gelandet. Ihre Begleiterinnen gehörten nun zu den wichtigsten Zeuginnen der Anklage. Sie schilderten, dass Alves gegenüber allen Mädchen schon kurz nach dem Kennenlernen eine «schmierige» Haltung an den Tag gelegt und sie beim Tanzen anzüglich betatscht habe.
Sie brachen in Tränen aus, als sie erinnerten, in welch desolatem Zustand sie ihre Freundin nach Verlassen des Badezimmers vorgefunden hatten. Sie beschrieben eine bis auf den heutigen Tag traumatisierte Frau, die Gewicht verloren, den Job gekündigt, ihre Sozialkontakte eingeschränkt und schliesslich ihrem schlimmsten Albtraum ins Gesicht gesehen habe – als die Mutter von Alves in den sozialen Netzwerken ihren Namen und Bilder von ihr veröffentlichte, gegen die ausdrücklichen Vorschriften des Gerichts.
Auch Klubmitarbeiter und Polizisten bestätigten, wie die Frau regelrecht von Zusammenbrüchen heimgesucht wurde, wenn sie über die Geschehnisse im Bad sprechen sollte. Demgegenüber hatte Alves’ Begleiter im «Sutton», sein Landsmann und Freund Bruno Brasil, eine andere Szenerie erlebt. Die Mädchen seien auf Vermittlung eines Kellners sofort und gern zu ihnen an den Tisch gekommen, man habe «sinnlich, aber mit Respekt» getanzt und dabei «viel Spass gehabt».
Zwischen Alves und dem mutmasslichen Opfer sei «Chemie» zu spüren gewesen, und als die beiden im Bad verschwanden, habe sich niemand Sorgen gemacht, auch die beiden Freundinnen nicht: «Im Gegenteil, sie machten Witze.» Nach der Rückkehr aus dem Bad seien alle dann entspannt und freundlich auseinandergegangen. Kameras zeigen das Gegenteil. Alves würdigte die Frau beim Verlassen der Disco keines Blickes.
Vor allem aber betonte Bruno – der Alves als einer von wenigen Personen auch regelmässig in der Untersuchungshaft besuchte – mehrfach, wie betrunken der Fussballprofi gewesen sei. Vier Flaschen Wein und reichlich Whisky hätten sie in einer Freundesgruppe schon bei einem vorangegangenen Restaurantbesuch konsumiert, danach in einer Bar weitergetrunken, und zwar niemand mehr als Alves. Das Gleiche erklärten weitere Kumpels sowie Alves’ Ehefrau Joana Sanz, die mitbekommen haben will, dass er «nach Alkohol stank», als er gegen vier Uhr morgens nach Hause zurückgekehrt sei: «Er stiess gegen den Schrank und klappte ins Bett.»
Die Verteidigung setzt auf Alves’ Trunkenheit
Die Insistenz auf Alkoholeinfluss diente zuletzt als Teil einer Doppelstrategie der Verteidigung. Alves’ Anwältin Guardiola schätzt die Chancen auf einen Freispruch offenbar als so schlecht ein, dass sie dem Beweis der Trunkenheit während der Prozesstage fast mehr Aufwand beimass als dem der vermeintlichen Unschuld. Damit soll das Strafmass im Fall einer Verurteilung möglichst nah an den Mindestwert von vier Jahren gedrückt werden. Und immerhin, aus Alves’ Sicht: Während er seine vermeintliche Umnachtung während des Ermittlungsverfahrens nicht einmal erwähnte, sagte mit dem Saal-Manager nun auch ein neutraler Zeuge aus, er habe den Stammkunden Alves anders als gewöhnlich erlebt: «Er hatte getrunken oder irgendetwas genommen.» Rund eineinhalb Flaschen Wein, mehrere Whiskys und einen Gin Tonic, laut Alves selbst.
Inwieweit dieser Umstand das Gericht beeindruckt, bleibt abzuwarten. Selbst eine von der Verteidigung nominierte Psychologin musste einräumen, Alves sei eine Person, die auch bei «eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten» noch in der Lage sei, «Gut von Schlecht zu unterscheiden». Die Glaubwürdigkeit des Ex-Profis gilt nach seinen wechselnden Aussagen als fast inexistent. Ob er sie mit seinem tränenreichen Auftritt am Mittwoch wiederhergestellt hat, wird man in den nächsten Wochen erfahren.
Die Chronologie des Falls
9. Dezember 2022 – das WM-Aus:
An der Fussball-WM scheidet Dani Alves im Viertelfinal mit Brasilien gegen Kroatien aus. Dem nach Lionel Messi höchstdekorierten Fussballer der Geschichte (43 Titel) bleibt eine krönende Weltmeisterschaft versagt.
30./31. Dezember 2022 – die Tatnacht:
Nach einem Dinner mit Freunden besucht Dani Alves in Barcelona die Diskothek Sutton. Auf Handzeichen seines Begleiters werden drei Frauen von einem Kellner an Alves’ Stammtisch in der VIP-Zone geleitet. Die Gruppe tanzt, ehe zunächst Alves, damals 39, dann eines der Mädchen, 23, in einem Separee ohne Kameras verschwindet. Dort verbringen sie 16 Minuten im Bad, das sie ebenso getrennt verlassen wie kurz danach die Diskothek. Dabei werden Security-Mitarbeiter auf den derangierten Zustand der jungen Frau aufmerksam. Sie sprechen mit ihr und aktivieren das Protokoll für Verdachtsfälle sexueller Belästigung. Die Polizei kommt und nimmt ihre Aussage auf, danach wird sie in ein naheliegendes Krankenhaus zur Untersuchung gebracht.
1. Januar 2023 – der Rückflug:
Alves reist nach Mexiko, wo er für den Klub Pumas spielt.
2. Januar 2023 – die Anzeige:
Das mutmassliche Opfer erstattet Anzeige. Alves habe sie gestossen, geschlagen und zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Der Frau wird Anonymität zugesichert.
5. Januar 2023 – das Video:
In einem Kurzvideo für ein spanisches Fernsehprogramm negiert Alves den in den Medien kursierenden Vorwurf, er habe eine Frau vergewaltigt.
20. Januar 2023 – die Festnahme:
Im Zuge einer Reise zur Beerdigung seiner Schwiegermutter auf den Kanarischen Inseln ist Alves nach Barcelona gekommen. Dort wird er vorgeladen und festgenommen. Bei seinem Verhör verwickelt er sich mehrfach in Widersprüche und korrigiert nach der Konfrontation mit Beweismitteln dreimal seine Aussage. Wegen hinreichender Tatindizien und Fluchtgefahr überweist ihn die Ermittlungsrichterin in Untersuchungshaft. Sein Klub Pumas kündigt ihm den Vertrag.
21. Februar 2023 – abgelehnte Anträge:
Das Ermittlungsgericht lehnt Anträge auf Entlassung aus der Untersuchungshaft ab. Alves’ Anwälte hatten unter anderem eine Kautionszahlung, die Abgabe des Reisepasses und eine elektronische Überwachung angeboten.
17. April 2023 – Alves’ neue Aussage:
Auf eigene Veranlassung revidiert Alves seine Aussage und räumt erstmals Geschlechtsverkehr ein; dieser habe einvernehmlich stattgefunden. Ursprünglich habe er gelogen, um den Seitensprung vor seiner Frau geheim zu halten.
12. Juni 2023 – weiter in Haft:
Das Oberste Provinzgericht Barcelona bestätigt, dass keine Voraussetzungen für eine Haftentlassung vorlägen.
21. Juni 2023 – das Interview:
Der Zeitung «La Vanguardia» erklärt Alves, er habe ein «ruhiges Gewissen». Nur er und die Klägerin wüssten, «was (in dem Bad) passiert ist und was nicht».
31. Juli 2023 – das Untersuchungsende:
Die Ermittlungsrichterin beendet ihre Beweisaufnahme und verweist den Fall ans Gericht. Für eine eventuelle Entschädigung des Opfers erlegt sie Alves eine Kaution von 150 000 Euro auf.
23. November 2023 – die Anklageschrift:
Die Staatsanwaltschaft fordert wegen «sexuellen Übergriffs mit Penetration» neun Jahre Haft gegen Alves sowie eine Entschädigung von 150 000 Euro an das mutmassliche Opfer. Die junge Frau verlangt als Nebenklägerin das nach dem Gesetz zur Tatzeit mögliche Höchstmass von zwölf Jahren Haft.
3. Januar 2024 – das Posting von Alves’ Mutter:
Personen aus dem Umfeld von Alves, darunter seine Mutter, verbreiten Bilder unbekannten Datums in den sozialen Netzwerken, die das mutmassliche Opfer mit Freunden beim Feiern zeigen, um die Glaubwürdigkeit ihrer psychischen Folgeschäden zu diskreditieren. Dabei wird auch der Name der Frau veröffentlicht. Die Enthüllungen verstossen gegen das vom Gericht angeordnete Geheimhaltungsgebot. Drei Tage vor Prozessbeginn löscht die Mutter die Bilder. Gegen sie läuft ein Verfahren.
5. Februar 2024 – der Prozess:
Das Gericht lehnt einen Antrag der Verteidigung auf Annullierung des Prozesses ab. In anonymisierter Aussage wiederholt das mutmassliche Opfer die eigene Darstellung. Von den Zeugenaussagen wird die junge Frau in den folgenden Tagen weitgehend gedeckt.