Der 28-jährige Aargauer gewinnt das 4000 km lange Transcontinental, das härteste Bikepacking-Rennen Europas. Für den Erfolg verleiht er seinem Leben Struktur – obwohl das seinem Naturell widerspricht.
Nach mehr als einer Woche im Sattel setzt Robin Gemperle sich irgendwo in der Türkei in ein Restaurant. Er bestellt eine Suppe, geniesst die heisse Mahlzeit. «Ich habe endlich einmal richtig gegessen und nicht gefressen wie ein Tier», sagt Gemperle. Stundenlang zehrt der Aargauer von diesem Moment, weil er sich so menschlich angefühlt habe.
Acht Tage vor dieser Essenspause startet Gemperle in Roubaix, im Norden Frankreichs, zum Ultra-Velorennen Transcontinental. Er fährt durch ganz Europa, steigt nur vom Velo, um zu schlafen oder Essen und Getränke zu kaufen. Er verpflegt sich während der Fahrt. Doch kurz vor dem Ziel braucht der Kopf eine Pause – in Form eines ruhigen Mittagessens in der Türkei.
Das Transcontinental von West- nach Osteuropa gibt es seit 2013. Etappen oder vorgegebene Pausen fehlen, die Teilnehmenden planen die Route selbst. Eine Begleitcrew ist verboten, die Fahrer sind auf sich gestellt. Sie transportieren das Gepäck, kümmern sich um die Verpflegung; sie müssen Kontrollpunkte passieren auf dem Weg quer durch Europa. Start- und Zielort sind jedes Jahr anders. Gemperle braucht dieses Jahr für die 4000 Kilometer von Roubaix nach Istanbul neun Tage.
Die Route plant er auf «Teufel komm raus»
Das Transcontinental gilt als das härteste Bikepacking-Rennen Europas, wer es gewinnt, gilt etwas in der Szene. Solche Wettkämpfe, in denen die Teilnehmenden auf sich gestellt sind, haben sich in den vergangenen Jahren rasant verbreitet, ausgelöst durch den Aufschwung der Gravel-Velos.
Im vergangenen Juli bestreitet Gemperle das Transcontinental zum bereits dritten Mal. Er lässt den Österreicher Christoph Strasser hinter sich, eine Legende des Ultra-Radsports. Strasser ist mehrfacher Sieger am Race Across America (RAAM) und am Transcontinental. Dieses Jahr aber triumphiert Gemperle, zum ersten Mal in seiner Karriere.
Die beiden unterschiedlichen Fahrertypen haben sich bereits im Vorjahr um den Sieg duelliert. Hier der Strassenfahrer Strasser, der lieber auf Asphalt und dafür Umwege fährt, da Gemperle, der «auf Teufel komm raus» die kürzeste Strecke plant und sogar Singletrails integriert.
Trotz dem Erfolg wird Gemperle auf die Titelverteidigung im nächsten Jahr verzichten. Er langweile sich rasch, sagt er. Nach dem Sieg hat das Transcontinental für ihn den Reiz verloren. Extreme Bikepacking-Wettkämpfe will er weiter bestreiten. Er hat eine Liste daheim, darauf zehn Rennen, alle über 1000 Kilometer lang und auf verschiedenen Unterlagen – diese will er unbedingt gewinnen.
Mit dem Fixie fährt er nach Kopenhagen oder Paris
Um seinen Traum zu verwirklichen, ist Gemperle seit dem Abschluss seines Architekturstudiums an der ETH im Mai Veloprofi. Doch noch. Schon vor zehn Jahren hätte er vom Sport leben können. Gemperle ist damals ein talentierter Mountainbikefahrer mit einem Vertrag im Team Scott; der Olympiasieger Nino Schurter war sein Teamkollege.
Doch der Teenager Gemperle will auch ausgehen, die Welt kennenlernen, vor allem studieren. Gleichzeitig hat er das Gefühl, im Sport immer einen Schritt zu spät dran zu sein. Der kompromisslose Fokus auf den Spitzensport fehlt ihm.
Gemperle beginnt, statt Profi zu werden, ein ETH-Studium. Er legt als DJ in den Zürcher Klubs «Gonzo» oder «Zukunft» auf. Die Liebe zum Velo bleibt. Mit seinem Fixie, einem Starrlauf-Velo, fährt er von der Schweiz nach Paris, Barcelona oder Kopenhagen. Auf diesen Touren spürt er, dass er nicht an seine körperlichen Grenzen stösst. 2022 nimmt er erstmals am Transcontinental teil, er taucht aus dem Nichts in der Szene auf. Gemperle entdeckt den Leistungssport zum zweiten Mal in seinem Leben.
Ein Hundebiss und eine Fleischwunde am Gesäss
Als Mountainbiker hat Gemperle die Struktur im Profisport als Einschränkung empfunden. Heute sieht er darin eine Chance. «Es reizt mich, herauszufinden, wie weit ich gegen mich arbeiten kann. Strukturiert zu sein, ist nicht meine Stärke.» Ohne Struktur aber lassen sich Ultra-Rennen nicht meistern: effizient schlafen, navigieren, Ablenkungen minimieren, das Velo optimieren. «Das sind alles Sachen, die meinem Naturell widersprechen.»
Das zeigt sich beim ersten Transcontinental, Gemperle bezahlt Lehrgeld. Er ist normalerweise mit so wenig Gepäck wie möglich unterwegs. Also nimmt er auch ans Transcontinental nur eine Velohose mit. Das Problem: Die Salzkristalle des Schweisses fühlen sich nach ein paar Tagen wie Schmirgelpapier an, Gemperle leidet an einer tiefen Fleischwunde am Gesäss.
Nach dem ersten Platten kauft er keinen zweiten Ersatzschlauch, was ihn in den letzten Tagen mit mehreren Pannen beinahe zum Aufgeben bringt. Obendrein gibt das Navigationsgerät den Geist auf, in Bulgarien wird er von einem Hund gebissen und muss für eine Tetanusspritze ins Spital.
Trotz diesen Widrigkeiten wird er bei der Premiere Achter, überrascht die Konkurrenz. Die Gegner sind fasziniert von Gemperle. Der sticht mit seinen wilden Locken und den Piercings heraus im Feld der Gümmeler. Gemperle wurde auch schon als Rockstar des Bike-Packings beschrieben. Er kultiviert dieses Image nicht mit aller Kraft, doch er weiss, dass er zurzeit nicht nur zu den besten, sondern auch den interessantesten Fahrern zählt – interessant zum Beispiel für Sponsoren.
Einige der unkonventionellen Seiten muss er für den Sport beiseiteschieben, das Auflegen als DJ etwa. Er beschränkt auch seine Engagements im «Klub Fritto Misto», den er gemeinsam mit seinem Bruder und Freunden aufgezogen hat. Das Unternehmen betreibt in der Peripherie von Aarau Pop-up-Restaurants mit kreativem Ansatz. Wie viel Genuss in seinem aktuellen Leben noch Platz hat, «muss ich immer wieder mit mir verhandeln», sagt Gemperle.
An die Schlafstrategie hält er sich strikt
Heute, als Profi, versucht Gemperle, seine Unbeschwertheit im Rennen als Vorteil zu nutzen, daneben aber in Spitzensport-Manier an Details zu schrauben. Vor dem dritten Transcontinental perfektioniert er die Vorbereitung. Das bedeutet unter anderem, dass er an der ETH nur eine durchschnittliche Masterarbeit abliefert. Für das grosse Rennen verfeinert er die Schlafstrategie. Die erste Nacht fährt er durch, dann schläft er einmal 4,5 Stunden, das ist ungewöhnlich lange für ein Nonstop-Rennen.
Danach folgen drei bis vier Nächte mit drei Stunden Schlaf, alle wenn möglich in einem Hotel. Für den Rest des Rennens reichen 90 Minuten pro Nacht. Lärm stört Gemperle nicht, dafür muss der Schlafplatz bequem sein. In der Schlussphase des Transcontinental legt er sich also in den Strassengraben. An die Schlafpausen hält er sich aber strikt, einen Kontrollverlust will er vermeiden. Anders als am Race Across America hat er keine Begleitcrew, die ihn überwacht und Entscheidungen für ihn trifft.
Dieses Race Across America, fast 5000 Kilometer lang, reizt ihn mittlerweile sogar. Gemperle kann sich vorstellen, dass er es gegen Ende der Karriere bestreiten wird, «auch wenn das fast eine andere Sportart ist, so durchstrukturiert, dass das Individuum kaum mehr Platz hat». Vorerst plant er seine Karriere auf vier bis fünf Jahre hinaus. Dann, so glaubt er, werde ihm ziemlich sicher wieder langweilig.