Die Kantonsrätin Mandy Abou Shoak ist kaum bekannt. Trotzdem will sie die Nachfolge von Corine Mauch antreten.
Eine Zeitlang sah es so aus, als sei der Fall klar: Raphael Golta, SP-Mann und seit elf Jahren Stadtrat, wird neuer Zürcher Stadtpräsident.
Kaum hatte Corine Mauch bekanntgegeben, dass sie nach siebzehn Jahren auf eine weitere Amtszeit verzichtet, brachte er sich in Position. Anfang April gab der Sozialvorstand dann offiziell sein Interesse am Präsidium bekannt. Konkurrenz aus den eigenen Reihen war nicht in Sicht. Und als stärkste Partei der Stadt Zürich mit einem Wähleranteil von fast 30 Prozent ist der Anspruch der SP auf das Präsidium quasi unantastbar.
Wer sollte ihm da noch den Thron streitig machen?
Doch nun kommt es anders. Golta erhält Konkurrenz – und zwar von einer Frau, die ausserhalb des Politzirkus kaum bekannt ist: Mandy Abou Shoak, 35 Jahre, Kantonsrätin. Der Moment für eine Kandidatur sei gekommen, sagte Abou Shoak zu den Tamedia-Zeitungen. Zürich sei eine vielfältige Stadt. «Viele Menschen kommen hierher, von nah und von fern, um etwas zu bewegen. Das verkörpere ich.» Sich selbst bezeichnet sie als «Berufsfeministin».
Der NZZ sagt sie, ihre Kandidatur stehe für Perspektiven, die bisher zu wenig Raum bekommen hätten, und Stimmen, die in der Politik oft überhört würden.
Damit kommt es zum spannendsten politischen Duell seit langem in der Stadt Zürich: SP gegen SP im Kampf um das Stadtpräsidium.
Die Unterschiede könnten grösser nicht sein. Golta, der für das Parteiestablishment steht, tritt gegen eine Kandidatin an, welche die selbsternannte Gleichstellungspartei SP geradezu verkörpert. Mandy Abou Shoak ist eine Frau, sie ist jung, Muslimin, und sie hat einen Migrationshintergrund. Sie ist in der sudanesischen Hauptstadt Khartum geboren. Die Eltern flüchteten mit ihr in die Schweiz, als sie noch ein Kleinkind war.
Heute ist Abou Shoak Sozialarbeiterin und arbeitet Teilzeit in einer Nichtregierungsorganisation, die gegen Gewalt an Frauen kämpft, und ist unter anderem Co-Präsidentin der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration. Politische Erfahrung hat sie nur wenig: Sie ist erst seit zwei Jahren Kantonsrätin und Mitglied in der Justizkommission. Die Vorstösse, die sie bisher im Parlament einreichte, drehten sich um die Umsetzung des Sexualstrafrechts, Gewaltprävention und Rassismus.
Zum Beispiel forderte sie in einer Motion, dass sämtliche «rassistischen Kulturgüter und Denkmäler mit kolonialer Belastung aus dem öffentlichen Raum» im Kanton Zürich entfernt werden. Der Vorstoss wurde Ende März deutlich abgelehnt.
Im Kantonsrat gilt Abou Shoak als umgänglich und freundlich. Das attestieren ihr auch Leute, die ganz anders ticken als sie. Der EDU-Kantonsrat Hans Egli zum Beispiel, der die christliche Identität der Schweiz bedroht sieht. Der NZZ erzählt er, wie er kürzlich mit ihr im Rat über Muslime in der Schweiz diskutiert habe. «Es war Ramadan, und sie hat mich dazu inspiriert, zweimal einen Tag zu fasten», sagt er. Danach habe Abou Shoak ihn zum Nachtessen mit ihrer Familie eingeladen. «Es war ein interessanter Abend.»
«Mut, die Erbfolge im Stadtrat infrage zu stellen»
Ob Abou Shoak das Zeug zur Stadtpräsidentin hat, entscheidet die Delegiertenversammlung der städtischen SP am 26. Juni.
Eine Stimme hat Goltas Konkurrentin auf sicher: die des SP-Kantonsrats Andrew Katumba. Ihre Kandidatur sei «erfrischend und inspirierend», sagt Katumba zur NZZ. Sie habe den Mut, «die Erbfolge im Stadtrat infrage zu stellen».
Katumba sagt, die Herkunft allein sei kein Kriterium dafür, ob sich jemand für das Präsidium eigne. Aber Abou Shoak verfüge über die nötigen politischen und fachlichen Voraussetzungen. «Sie ist schliesslich Kantonsrätin, das wird man nicht einfach so.» Er traue ihr das Amt zu. Auch, weil sie gut auf Menschen zugehen könne, unabhängig von deren Hintergrund. «Das braucht die Stadt jetzt.»
Katumba hat in der NZZ jüngst seine eigene Partei kritisiert. Die Chancengleichheit, die über die Geschlechterfrage hinausgehe, sei ein wunder Punkt der Zürcher SP, sagte er – und spielte darauf an, dass die Partei Gleichstellung vor allem auf das Geschlecht beziehe. Abou Shoak selbst sagt dazu, dies sei ein gesamtgesellschaftliches Problem und nicht ein Problem der SP. «Mit meiner Kandidatur gewinnt die SP diesbezüglich an Glaubwürdigkeit, und wir zeigen einer vielfältigen Bevölkerung, dass sie bei uns in der Partei willkommen und gefragt ist.»
Das sieht auch Katumba so. «55 Prozent der Zürcherinnen und Zürcher haben einen Migrationshintergrund. Sie sehnen sich danach, repräsentiert zu werden», sagt er. Auch Katumba selbst, Sohn eines Uganders und einer Ukrainerin, wurde als möglicher Anwärter für das Stadtpräsidium gehandelt. Er nahm sich aber aus dem Rennen.
«Durchaus wählbar», sagt die GLP-Politikerin
Mit Mandy Abou Shoaks Kampfansage hat die Frage nach der politischen Vertretung von Personen mit Migrationshintergrund neuen Schub bekommen. Das sagt Monica Sanesi, GLP-Kantonsrätin und Präsidentin von Secondas Zürich. Der Verein setzt sich für die politische Partizipation von Migrantinnen und Migranten ein.
Sie freue sich über die Kandidatur von Mandy Abou Shoak, sagt Sanesi. «Heute sind Personen mit Migrationshintergrund gar nicht im Stadtrat vertreten – das muss sich ändern.»
Die Herkunft allein sei zwar keine Legitimation für ein politisches Amt, räumt sie ebenfalls ein. Es brauche auch politisches Know-how, Engagement und Persönlichkeit. Reichen im Fall von Abou Shoak zwei Jahre im Kantonsrat, um sich als Kandidatin für das Stadtpräsidium aufstellen zu lassen? «Das ist sehr mutig», sagt Sanesi. «Aber manchmal muss man etwas wagen.»
Sie hofft, dass noch mehr Personen mit Migrationshintergrund Interesse am Stadtrat bekunden werden. Neben Abou Shoak hat dies bisher die GLP-Frau Serap Kahriman getan.
Klar ist: Mandy Abou Shoaks Interesse am Präsidium bringt die SP-Delegierten in die Bredouille. Sollen sie den arrivierten Kandidaten wählen, der die Ochsentour hinter sich hat, oder eine Frau, die sie gemäss ihren Werten – für Vielfalt und Gleichstellung – fast wählen müssen?
Der SP-Kantonsrat Andrew Katumba sagt dazu, dass es unter den Delegierten seit den letzten Wahlen einen Generationenwechsel gegeben habe. Er hält die nächsten Wochen für entscheidend dafür, ob sich die «Welle der Euphorie» angesichts von Abou Shoaks Kandidatur auf die Delegierten überträgt.
Für Golta selbst ist die Ausgangslage ein Jahr vor den Wahlen plötzlich unbequem geworden. Angesprochen auf die unverhoffte Konkurrenz aus den eigenen Reihen, sagt er zur NZZ: «Ich bin stets davon ausgegangen, dass es in der SP weitere Kandidaturen für das Präsidium geben wird.» Nun freue er sich auf die parteiinterne Debatte zur Zukunft der Stadt und zur künftigen Besetzung der SP-Delegation im Stadtrat.
Schafft es Abou Shoak nicht ins Präsidium, könnte sie immerhin Stadträtin werden – und damit die erste Person of Colour in Zürichs Exekutive.
Dafür muss sie aber erst einmal von der Partei aufgestellt werden.