In Stommeln bei Köln verleiht ein Werk des deutschen Künstlers Olaf Nicolai dem Kultraum einer Synagoge eine Stimme: Darin geht es um Flugbahnen von Brieftauben.
Im Jahr 1938 brannten in Deutschland die Synagogen. Einige wenige entgingen der antisemitisch propagierten Zerstörung. Sei es, dass ihr Bau so eng mit der Umgebungsarchitektur verbunden war, dass man das Feuer vorzeitig löschen musste, um die angrenzenden Gebäude zu schützten. Sei es, dass die Synagogen bereits säkularisiert waren, aus Gründen vorhergehender Unterdrückung und Emigration der zugehörigen jüdischen Gemeinden und ihrer Mitglieder.
Die Landsynagoge in der ehemaligen Bürgermeisterei Stommeln, linksrheinisch unweit von Köln gelegen, zählte zu diesen. Auch späterhin fiel das Gebäude nicht jener Abrisswelle zum Opfer, die in den deutschen Nachkriegsjahrzehnten aus ökonomischen und spekulativen Motiven so zahlreiche Immobilien erfasste, die einen Zeugniswert für die nationalsozialistische Verfolgungspolitik oder auch für deren Aufarbeitung besassen. In Stommeln hingegen, mittlerweile Ortsteil der Stadt Pulheim, hatten kluge Politiker dafür gesorgt, dass die Stadt den schlichten neoromanischen, allerdings verwahrlosten Ziegelsteinbau erwarb und ihn einer beispiellosen Revitalisierung – oder vielmehr Umbelebung zugeführt hat.
Diese Neunutzung begann 1991 mit einer Arbeit von Jannis Kounellis. Der griechisch-italienische Arte-povera-Künstler hatte mittels dreier hölzerner Vierkantbalken und Felsblöcken Zusatzstützen unter die Synagogendecke und -empore eingezogen, als wäre es eine sozialpsychologische Notwendigkeit. Sodann setzten sich Jahr für Jahr meist singuläre künstlerische Interventionen fort. Santiago Sierra etwa erinnerte an die frühesten Methoden systematischen Vergasens in den Vernichtungslagern von Chelmno und Maly Trostinez, indem er 2006 in einer umstrittenen Installation die Abgase laufender Automotoren in die Stommelner Synagoge einströmen liess.
Oder Gregor Schneider 2014: Seine Arbeit «Hauptstrasse 85a» – es war die Umwandlung des ehemaligen Kultbaus zu einem profanen Einfamilienhaus – hatte eine sublime Verdrängung kollektiver Gedenkstättenkultur durch den bürgerlichsten aller Sehnsuchtsorte, das Eigenheim, vorgeführt.
Traum und Text
Nach Alfredo Jaars «Bilderklage» (2019) wurde es dann für lange Zeit still. Erst diesen Sommer, sechs Jahre später, erfährt der Raum mit der Beauftragung des in Karl-Marx-Stadt aufgewachsenen und an der Akademie in München lehrenden Künstlers Olaf Nicolai eine fulminante Wiederbelebung.
Sein Ausgangspunkt ist ein Lehrsatz des Talmud, der mehrfach in dessen zentralem Abschnitt über die Träume, Berakhoth 55a–57b, erörtert wird. Die dortige Engführung von Traum und Text sowie von Deutung und Lektüre hätte vermutlich schon Sigmund Freud inspiriert. Sie lautet in der Übersetzung des Wiener Rabbiners Alexander Kristianpoller, der 1942 in Maly Trostinez bei Minsk ermordet wurde: «Ein Traum, der nicht gedeutet wird, gleicht einem Brief, der nicht gelesen wird.»
Nicolais Intervention in Stommeln mit dem Titel «Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungelesener Brief» folgt einer komplexen Abfolge unterschiedlichster Medien und Protagonisten: An deren Ende stehen Vokalperformances, vorgetragen von einer Solosängerin oder einem Sänger, die in dem engen Raum der Synagoge, gelegentlich auch auf deren Vorhof, eine jeweils eigens erdachte Partitur zur Aufführung bringen – meist höchst überzeugend, vor allem dann, wenn ihre Tonfolgen und Glossolalien alles Elegische, alles Sentiment und allen vordergründigen Wohllaut meiden.
Der Flug der Tauben
Als Notation dient den Sängern jeweils ein Diagramm dreier einmal mäandernder, einmal oszillierender oder auch unaufgeregter Linien, die sowohl Höhen- und Geschwindigkeitsangaben wie auch einen geografischen Parcours abbilden. Diese wiederum gehen auf eine Handvoll Brieftauben zurück, deren Flugbewegungen von der Synagoge in ihren heimischen Taubenschlag in Frechen bei Köln via satellitengestützter Überwachungstechnik ermittelt wurden.
Die Umwandlung von Flugbahnen zu Gesang ist charakteristisch für Nicolais Schaffen. Die Erkundung des Himmels hat der deutsche Künstler auch schon in Arbeiten wie «All Our Suns» auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, «Faites le travail qu’accomplit le soleil» in Hannover oder dem «Windtagebuch» auf der Biennale in Venedig unternommen. Sie stellt ein Kontinuum in seinem Werk dar.
Nicolai will damit stets Unartikuliertes präsent machen. Daran erinnerte er etwa auch schon mit seiner Publikation «Silent Partners» mittels eines Konvoluts historisch ungeschriebener Bauhausbücher. Oder auch mit der seit fünfzehn Jahren mehrfach wiederholten Aufführung der Partitur «(Innere Stimme)», die Robert Schumann einst seinen Interpreten zur Lektüre gab, aber nicht zu Gehör gebracht wissen wollte.
Insoweit ist es Olaf Nicolais Verdienst, dass das Haus der ehemaligen Synagoge in Stommeln jetzt buchstäblich wieder zur Stimme gelangt. Der Komponist Max Neuhaus, der 2007 nach Stommeln geladen wurde, hatte damals den Raum akustisch nicht anrühren wollen. Er hatte vielmehr seine Toninstallation «Time Piece Stommeln» dauerhaft auf dem Marktplatz eingerichtet. Sie folgt einem diametral gegenteiligen Konzept gegenüber demjenigen von Nicolai: dass Lautsignale, wie Neuhaus kommentiert, eher durch Schweigen denn durch Laut gebildet werden.
Olaf Nicolai, «Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungelesener Brief», Synagoge Stommeln, bis 21. September (Termine unter www.synagoge-stommeln.de). — Eine 4 LP umfassende Edition der Gesangsperformances erscheint demnächst bei «spector books», Leipzig.