Julianne Moore spielt die Frau, die den Minderjährigen verführte. Und Natalie Portman verkörpert eine Schauspielerin, die diese Frau in einem TV-Film spielen soll.
Man hätte vieles erwartet von Hollywoods letztem grossem Melodram-Regisseur Todd Haynes («Far from Heaven», «Carol»), aber nicht, dass er mit «May December» einen veritablen Vampirfilm vorlegt. Natürlich tut er das nicht wirklich, denn blutsaugende Nachtgestalten gibt es in diesem Film keine. Aber das Verhältnis des Kinos zur Wirklichkeit wird immer schon mit dem eines Vampirs zu seinen Opfern verglichen. Und im übertragenen Sinn handelt es sich bei «May December» um ein beinahe trashiges Fest des Vampirismus. Der moralisch fragwürdige Untote ist das Kino selbst, das von Natalie Portmans Elisabeth verkörpert wird.
Elisabeth ist eine berühmte TV-Schauspielerin, die in ihrer nächsten Rolle Gracie (Julianne Moore) spielen soll. Gracie hat vor gut zwei Jahrzehnten für Schlagzeilen gesorgt, als sie sich mit 36 Jahren auf eine sexuelle Beziehung mit einem 13-jährigen Schüler, Joe (Charles Melton), eingelassen hat. Heute lebt sie mit diesem und ihren drei gemeinsamen Kindern ein der Fassade nach glückliches Leben. Aber es bröckelt selbstverständlich. Sonst gäbe es keinen Film.
Elisabeth verbringt Zeit mit Gracie und deren Familie, kommt ihr und vor allem Joe immer näher, durchkämmt das Private und Intime, und so ganz genau kann man nicht bestimmen, weshalb sie das tut. Professionalität? Perverse Lust? Verdorbenheit? Langeweile?
Basierend auf einem wahren Fall
Haynes fabriziert einen Balanceakt zwischen tiefenpsychologischem Thriller und Kitsch. Immer wenn ihm das eine gelingt, scheitert das andere. Ob Absicht oder nicht, der Filmemacher spiegelt damit genau jene Ambivalenz, die in jeder Narrativierung von realen Ereignissen angelegt ist. Da er sich auf den künstlerischen Prozess fokussiert, verbirgt er geschickt, dass sein auf einem wahren Fall basierender Film eigentlich Teil der gleichen Maschinerie ist, die er anprangert.
Im Falle Elisabeths arbeitet diese Maschinerie fast diabolisch, denn die Schauspielerin trachtet mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nach einer Identifikation mit dem Wesen Gracies. Das heisst, sie möchte Gracie sein. In einer in Zeitlupe gefilmten Szene, während deren Elisabeth durch einen Schulkorridor geht und kokett lächelnd die gierigen Blicke der Pubertierenden erwidert, kippt ihr nur scheinbar professionelles Verhalten in etwas Bedrohliches. Die Lust an der Perversion und der pubertäre Schauder einer nie wirklich erwachsen werdenden Gesellschaft finden ihren Ausdruck in einer amoralischen Sexualität und in deren Übersetzung in die Unterhaltungsindustrie.
Besonders die an Ingmar Bergmans «Persona» gemahnenden Szenen mit Moore und Portman vor einem Spiegel sind ein Wink mit dem Zaunpfahl. Haynes hält sich selbst und dem Kino einen Spiegel vor, er schiebt verschiedene Wirklichkeitsebenen ineinander, so dass zunehmend unklar ist, von welchem moralischen Affront hier erzählt wird. Dem von der unberechenbaren Gracie oder dem der kalkulierenden Elisabeth? Auch die so direkt angesprochenen Kinobesucher machen sich zum Teil eines widerwärtigen Spiels, dessen Opfer letztlich Joe ist. Gerechtigkeit gibt es nicht, nur eine kollektive Krankheit, in der die Schwächeren unter den Stärkeren leiden. Dass man dabei auch als Zuschauer immerzu nach den geheimen Traumata sucht, während der eigentliche Schmerz auf der Oberfläche liegt, nämlich im Leben eines mit 13 Jahren sexuell missbrauchten Jungen, gibt zu denken.
Wollust am Skandal
Die etwas altmodische Redewendung «May-December» verweist im Englischen auf eine Beziehung zwischen einer älteren und einer deutlich jüngeren Person. Das Drehbuch basiert lose auf dem Skandal um Mary Kay Letourneau, einer vor wenigen Jahren an einer Krebserkrankung gestorbenen Lehrerin aus Washington State, die eine Beziehung mit einem 12-jährigen Schüler einging.
Der Film stellt die Wollust am Skandal aus. Das ist nicht das einzig typisch Amerikanische an «May December». Wie beiläufig gefilmte Szenen von Barbecue-Nachmittagen, High-School-Abschlussfesten und leergefegten Vororten zeigen eine sich selbst zitierende Gesellschaft, die kaum noch aufrechterhalten kann, was sie verkörpert. Das beste Beispiel dafür ist Georgie, Gracies Sohn aus erster Ehe. Der wandelt wie ein fragiler Fremdkörper durch die allumgreifende, gestellte Fröhlichkeit, scheint längst zerbrochen an dem, was seiner Familie widerfahren ist, aber behält doch ein schwer zu lesendes, unberechenbares Etwas bei. Hier gilt: Solange andere zerstört werden können, ist man selbst noch nicht vernichtet.
Die US-Seele verrottet laut Haynes unter einem vorgetäuschten Optimismus. Die auftretenden Risse offenbaren deformierte Perversionen, nächtliche Heulkrämpfe und nie überwundene Traumata. «Fakeness» ist hier eine Überlebensstrategie, eigentlich spielt keine der Figuren mit offenen Karten. Das liegt weniger an strategischen Motivationen als an einem gesellschaftlichen Ausgeliefertsein, das gar nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu erkennen.
Alle Figuren in diesem Film wollen ein Bild wahren oder werden. Wer als Erster zeigt, dass hinter dem Bild ein Mensch leidet, verliert. Ein Schelm, wer dabei an die sozialen Netzwerke denkt. Als Elisabeth den Lippenstift Gracies aufträgt und in die Kamera spricht, wird Imitation zum Fetisch, Schauspiel zur oberflächlichen Flucht vor der menschlichen Seele.
Wie beim grossen Douglas Sirk
Wie die Geschichten der Psychoanalyse und des Melodrams zeigen, reissen die Abgründe umso heftiger auf, je weiter sie verdrängt wurden. Haynes spielt mit den alles verbergenden Oberflächen, zeigt farbkräftige Blumen, schlüpfende Schmetterlinge und lässt wiederholt das unbeschreibliche, hochdramatische Musikthema aus Joseph Loseys artverwandtem Historiendrama «The Go-Between» (1971) in seinen Film brechen wie Wellen auf einen ausgetrockneten Strand. Das ist nicht nur die hohe, an Douglas Sirk geschliffene Schule des Melodrams, es ist vor allem beunruhigend. Frappierend ist, wie lustvoll sich auch Haynes in die fiktionalen Abgründe stürzt. Ein sanfter Sadismus herrscht dort, wo jede Figur zärtlich an den Punkt des völligen Zusammenbruchs geführt wird, nur damit die Kamera diesen einfangen kann.
Am Ende wird der sich teuer verkaufende Kunstanspruch Elisabeths dann schonungslos entlarvt. Der Film, für den sie all das auf sich nahm, ist bestenfalls eine billige Erotik-Schmonzette, alles, was von ihrer Recherche bleibt, sind das Lispeln und das Make-up von Gracie. In einer mehrfach wiederholten Szene am Filmset verführt Elisabeth den fiktionalen Joe, mit einer Schlange um ihren Arm gewickelt. Damit zeigt Haynes nicht nur, dass die Recherche wie meist interessanter ist als die eigentliche Arbeit, sondern er legt klug den Finger in die Wunden einer auf Oberflächlichkeiten gerichteten Kultur. Was von all den paradoxen, menschlichen Existenzen bleibt, sind Gerüchte, reisserische Geschichten, Sex, Gewalt und ein kaum merklicher Schauder, der einem verdeutlicht, dass man nichts versteht.