Die Frau verabreichte ihren Söhnen einen Medikamentenmix, um sie «mitzunehmen». Offen ist, was sie damit meinte.
Es war bereits spätabends gegen 23 Uhr im November 2022, als eine Mutter ihren beiden minderjährigen, schulpflichtigen Söhnen je ein Glas mit Wasser brachte, in denen sie mehrere Tabletten aufgelöst hatte. Sie sagte ihren Kindern, es handle sich um Vitamine. Sie müssten die Getränke trinken, was die Söhne auch taten. Gesundheitliche Probleme bekamen sie dadurch nicht.
Zwei Jahre später steht die Schweizerin, Mitte 30, wegen des Vorwurfs der mehrfachen versuchten vorsätzlichen Tötung und des Verabreichens gesundheitsgefährdender Stoffe vor Bezirksgericht Winterthur.
Die Öffentlichkeit ist vom Prozess ausgeschlossen. Die akkreditierten Gerichtsberichterstatter sind strengen Auflagen unterworfen, damit die Anonymität aller beteiligten Personen in diesem tragischen Familiendrama gewahrt bleibt. Auf weitere Details zu den persönlichen Verhältnissen der Familie wird deshalb in diesem Bericht verzichtet. Der Tatort ist im Bezirk Winterthur.
Die Frau befand sich zum Tatzeitpunkt in einer depressiven Episode mit psychotischen Symptomen. Laut dem Gerichtsgutachten war ihre Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgrund eines Wahns nicht mehr vorhanden. Der Staatsanwalt hat deshalb keine Anklage erhoben, sondern den Antrag gestellt, es sei festzustellen, dass ihr Verhalten zwar objektiv die beiden obgenannten Straftatbestände erfülle, sie dafür aber nicht schuldfähig sei. Es wird eine ambulante Massnahme für eine schuldunfähige Person beantragt.
Wollte die Mutter ihre Söhne «mitnehmen»?
Unbestritten ist, dass die Mutter an jenem Abend Suizid begehen wollte. Laut dem Antrag des Staatsanwalts verabreichte sie jedem der beiden Söhne drei Tabletten eines Schmerzmittels sowie insgesamt sieben bis acht Tabletten zweier unterschiedlicher Antidepressiva. Der Ehemann hörte, dass seine Ehefrau, welche das Schlafzimmer nochmals verlassen hatte, leise mit den Kindern sprach, konnte aber nicht verstehen, was sie zu ihnen sagte.
Die Mutter und die beiden Söhne wurden ins Spital gebracht. Dem Ehemann soll sie gesagt haben, dass sie alle als Familie zusammen «gehen» würden. Gegenüber der Notfallärztin und der Polizei erklärte sie, sie habe ihre Söhne «mitnehmen» wollen. Die toxikologischen Untersuchungen des Urins der beiden Söhne ergaben keine bedenklichen Werte. Die Kinder blieben wohlauf.
Die Gerichtsverhandlung ist für die beschuldigte Frau ein sichtbar hoher Stressfaktor. Sie spricht leise. Die meisten Fragen des Gerichtsvorsitzenden beantwortet sie nur mit Nicken oder Schütteln des Kopfes. Den äusseren Ablauf der Tat gibt sie vollumfänglich zu. Nach der Tat sass sie rund einen Monat in Untersuchungshaft. Ihre Arbeitsstelle, die ihr sehr wichtig sei, konnte sie danach behalten. Sie führt heute wieder ein normales Familienleben, arbeitet und besucht freiwillig eine ambulante Therapie.
Wie sich bei der Befragung herausstellt, litt die Frau zum Tatzeitpunkt neben der Depression auch unter einem Verfolgungswahn. Am Tag der Tat rief sie die Polizei an, weil sie eine Person durch den Türspion gesehen habe. Ihr Ehemann organisierte ihr daraufhin gleichentags einen Beratungstermin in einem psychotherapeutischen Kompetenzzentrum. Die Frau nahm den Termin sogar wahr. Dort soll sie sich glaubhaft von jeglicher Gefahr der Selbstgefährdung distanziert haben, nur um am gleichen Abend dann zur Tat zu schreiten.
Aus einem aktuellen Bericht ihres Therapeuten geht hervor, dass die ambulante Therapie erfolgreich sei. Die Frau nimmt zudem Medikamente gegen Depressionen. Der Einzelrichter fragt die Beschuldigte, ob sie glaube, die Tat derart verarbeitet zu haben, dass es nie wieder passieren werde. Sie nickt. Auf ein Schlusswort verzichtet sie.
Die beiden Söhne haben für den Prozess eine Rechtsvertreterin erhalten. Diese beantragt je eine Genugtuung von 500 Franken. Der Staatsanwalt muss zum Einzelrichter-Prozess nicht erscheinen und hat sich dispensieren lassen.
Der Verteidiger plädiert nur auf Tätlichkeit
Der Verteidiger sieht nur den Straftatbestand der Tätlichkeiten als erfüllt an. Die verabreichten Dosen der Medikamente seien derart gering gewesen, dass sie weit davon entfernt gewesen seien, toxisch oder lebensgefährlich zu sein. Im Urin der Söhne seien keine Anhaltspunkte für eine toxische Menge gefunden worden. Die Mutter habe die Söhne überhaupt nicht töten wollen, sie habe ihnen Medikamente verabreicht, um sie «vor einem potenziell traumatischen Erlebnis zu schützen».
Sie habe Suizid begehen und verhindern wollen, dass die Söhne danach mit ihrer Leiche konfrontiert würden. Das Wort «mitnehmen» sei nicht gleichbedeutend mit einer versuchten Tötung. Es könne auch «schützen» bedeuten. Eine versuchte vorsätzliche Tötung sei es nicht gewesen. Und für die Erfüllung des Tatbestands des Verabreichens gesundheitsgefährdender Stoffe reiche die Menge nicht aus.
Der Winterthurer Einzelrichter fällt sein Urteil schliesslich so wie vom Staatsanwalt beantragt. Er betont, dass die Person, die im November 2022 die Tat verübt habe, nicht identisch sei mit jener Person, die nun im Gerichtssaal sitze. Denn die Frau habe sich damals in einem psychischen Ausnahmezustand befunden. Trotzdem würden ihre damaligen Handlungen klar auf eine Tötung hinweisen.
Ein Medikamentenmix, der keinen Sinn ergebe. Die Verabreichung von Medikamenten an Kinder, die nicht für Kinder zugelassen seien. Eine Dosis, die nicht erklärbar sei: Die Beschuldigte habe im Voraus keine Abklärungen über die mögliche Wirkung getroffen. Es handle sich ganz offensichtlich um eine Kurzschlusshandlung in unglaublicher Verzweiflung durch die Depression. Im Nachhinein sei die Tat nicht mehr erklärbar.
Für die Aussage, dass sie die Kinder habe «mitnehmen» wollen, gebe es drei verschiedene Zeugen. Das Gericht schliesse aus, dass sie dieses Wort in einem Delirium benützt habe, denn gleichzeitig habe sie gegenüber der Notärztin und der Polizei genaue, klare Angaben gemacht, was sie den Kindern gegeben habe. «Wir interpretieren das so, dass es ihr ernst war», sagt der Einzelrichter, auch wenn es heute für alle nicht verständlich sei.
Dass die Frau später angegeben habe, sie habe ihre Kinder mit der Verabreichung der Medikamente schützen wollen, werte das Gericht als nachträglicher, völlig normaler Erklärungsversuch. Denn eine solche Tat vergebe man sich selber ja nicht so leicht.
Die Frau ist nicht schuldfähig und führt ihre ambulante Therapie weiter. Die beiden Söhne erhalten je 500 Franken Genugtuung. Aufgrund der Schuldunfähigkeit der Beschuldigten gehen sämtliche Gerichts- und Verfahrenskosten auf die Staatskasse.
Urteil GG240026 vom 15. 10. 2024, noch nicht rechtskräftig.