Wird das Gericht der Frau glauben? Ein Zürcher Fall wirft ein Schlaglicht auf ein grösseres Problem.
Er sagt: «Sie wollte es unbedingt, sie ist zu mir auf den Schoss gekrochen.»
Sie sagt: «Ich erinnere mich an nichts. Blackout. Und danach war ich plötzlich nackt auf seinem Sofa.»
Ein Mann und eine Frau sitzen im Gerichtssaal. Nicht gleichzeitig, das ginge nicht. Sagt die eine aus, muss der andere den Saal verlassen. Sie sprechen über eine Straftat, die vor Gericht so schwierig zu beweisen ist wie kaum ein anderes Verbrechen: einen sexuellen Übergriff, begangen ohne Zeugen, mit einem Opfer, das sich an nichts erinnert.
Eine Gruppe ist dieser Gefahr dabei besonders ausgesetzt: Frauen und Männer, die ihr Geld mit sexuellen Dienstleistungen verdienen.
Er sagt: «Sie war einfach drauf, sie hatte Lust auf all das.»
Sie sagt: «Man geht zu den Kunden, man versucht bereit zu sein, auch sexuell. Aber es ist nicht einfach. Und ich bleibe nie länger als abgemacht.»
Er sitzt breitbeinig im Verhandlungssaal des Bezirksgerichts Uster, selbstsicher nach vorn gebeugt, gibt seine Antworten, bevor der Richter seine Fragen beendet hat, und schüttelt, wenn andere über ihn reden, gern theatralisch den Kopf. Er mache, so wird der Richter am Ende des Tages bemerken, nicht den Eindruck, als ob ihn das Geschehene emotional sehr stark belaste.
Sie sitzt da, um Ruhe bemüht. Mit ihren Händen hält sie sich an der Unterseite des Stuhls fest. Wenn sie spricht, breiten sich die Hände aus, gestikulierend, beschwörend, während ihre Stimme immer schneller wird und sie in immer anderen Sätzen um dasselbe bittet: Macht mir meinen Beruf nicht zum Vorwurf.
Der Fall
Es geht bei der Verhandlung um einen Abend im November 2022. Die Klägerin besucht den Beschuldigten in seiner Wohnung, in einem ruhigen Zürcher Vorort.
Er sagt: «Ich habe sie als Escort bestellt und die Stunden abgemacht.»
Sie sagt: «1500 Euro für fünf Stunden.»
Er sagt: «Die Idee war, zusammen Party zu machen, Drogen zu konsumieren.»
Sie sagt: «Champagner ist bitter und hat diese Bläschen. Ich habe nicht gemerkt, dass da etwas drin war. Er hat es geschickt gemacht. Und plötzlich war ich bewusstlos.»
Er ist Schweizer, damals 32 und geschieden. Als Finanzberater verdient er mehrere hunderttausend Franken im Jahr. Er fährt schicke Autos – Mercedes, Ferrari – und ist wegen Strassenverkehrsdelikten mehrfach vorbestraft. Seine Wohnung kostet 5000 Franken pro Monat. Und er hat hohe Schulden, wird immer wieder betrieben. Um nicht bezahlen zu müssen, lügt er auch mal das Pfändungsamt an, wie das Gericht im Lauf des Verfahrens feststellen wird.
Sie ist Rumänin, damals 24 und hat schon in Belgien, Polen und nun der Schweiz angeschafft. Sie stammt aus einer armen Familie, hat keine Ausbildung und spricht kein Deutsch. Ihre Dienstleistung bietet sie über eine Online-Plattform an. In der Vergangenheit, so gibt sie vor Gericht an, sei sie bereits einmal Opfer eines sexuellen Übergriffs durch einen Freier geworden.
Sie sagt: «Als ich aufwachte, war ich in einem bösen Zustand. Ich konnte kaum laufen. Ich wollte wissen, was er mit mir gemacht hat.»
Er sagt: «Sie hatte plötzlich das Gefühl, ich hätte ihr etwas getan, rief hysterisch ihre Schwester an.»
Es steht – wie so oft bei solchen Fällen – Aussage gegen Aussage. Wer recht hat, ist unklar.
Das Problem
Klar ist dagegen: Gewalt an Sexarbeiterinnen ist in der Schweiz ein Problem. Genaue Zahlen existieren keine, doch Anlaufstellen und Strafverfolgungsbehörden sprechen von einem verbreiteten Phänomen. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) bezeichnet die Prävalenz der Gewalt im Milieu in einem Bericht von 2021 als «sehr hoch». Sie finde auf dem und abseits des Strassenstrichs statt und betreffe verstärkt ausländische Frauen, da diese in besonders prekären Situationen arbeiteten.
Am verbreitetsten sei Gewalt durch Freier und Passanten. Häufig sind laut dem Bericht das Eindringen ohne Präservativ gegen den Willen der Sexarbeiterin sowie der Zwang zum Alkoholkonsum oder zu bestimmten Sexualpraktiken.
Auch laut der Stadtpolizei Zürich verlangen Freier häufig Sex ohne Kondom. Sie schreibt: «Die Sexarbeiterinnen erzählen auch, dass sie dies sonst so in Europa nicht erlebten. Sie bezeichnen die Forderungen der Freier in der Schweiz als erniedrigend.»
Rebecca Angelini ist Geschäftsleiterin von ProCoRe, der nationalen Koordinationsstelle für den Schutz von Sexarbeitenden. Sie sagt: «Wenn es um sexualisierte Gewalt geht, sind Sexarbeiterinnen – gerade solche, die unter prekären Bedingungen arbeiten – enorm verletzlich.» Besonders riskant sei das isolierte Arbeiten, speziell in fremder Umgebung.
In einer solchen findet sich auch die Escort-Frau aus Rumänien nach ihrem Filmriss wieder.
Sie sagt: «Ich fühlte mich, wie wenn ich zu Staub zerfallen wäre. Es ging mir nicht gut. Nur ein Psychopath tut einer Frau so etwas an.»
Er sagt: «Ich wollte sie so schnell wie möglich loswerden. Ich verstand den Vorwurf nicht, verstehe ihn immer noch nicht.»
Am nächsten Morgen tut sie, was Prostituierte in solchen Fällen praktisch nie tun: Sie geht zur Polizei, reicht Strafanzeige wegen «Schändung» ein und lässt sich medizinisch untersuchen. Das Resultat: Sie hat Cannabis, Kokain und LSD im Blut – nur die ersten zwei Substanzen konsumiert sie selbst, wie eine Haaranalyse bestätigt.
Wie also kam das LSD in ihren Körper?
Die Gerichtsmediziner finden zudem Verletzungen im Intimbereich und Spermaspuren des Beschuldigten in der Vagina, die auf eine Penetration ohne Kondom hindeuten. Etwas, das laut der Frau weder abgesprochen noch Teil ihrer Dienstleistung war.
Wie also kam das Sperma in ihren Körper?
Er sagt: «Wir haben Spielchen gemacht, ich wüsste nicht, wie ich es sonst nennen sollte.»
Sie sagt: «Er hat etwas in mein Glas getan. Er wartete darauf, es ohne Präservativ mit mir zu machen.»
Als der Richter ihn fragt, ob es an jenem Abend zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen gekommen sei, fragt er zurück: «Also, was heisst das, ‹einvernehmliche sexuelle Handlungen›?»
Die Ausnahme
Fälle wie dieser landen kaum je vor Gericht. Rebecca Angelini sagt: «Es gibt nur sehr selten Anzeigen, und selbst wenn es welche gibt, sind die Chancen auf einen Schuldspruch verschwindend gering. Gleichzeitig müssen die Frauen im Rahmen eines Verfahrens wieder und wieder von ihrem Trauma berichten, was extrem belastend ist.»
Das Problem wird laut Angelini durch die Vorurteile gegenüber Sexarbeit verschärft – eine Haltung, die auch der Fedpol-Bericht einnimmt, der von einer «hohen Stigmatisierung» spricht. «Aufgrund ihres Berufs gesteht man diesen Frauen weniger zu, dass sie Opfer sein können, besonders bei Sexualdelikten», sagt Angelini. «Die Haltung bei Polizei und Strafverfolgern ist oftmals: So wie auf Baustellen das Unfallrisiko grösser ist, ist im Sexgewerbe das für Vergewaltigungen grösser.»
Das könne zu einer Täter-Opfer-Umkehr führen – oder zu der Haltung, dass Sexarbeiterinnen unter Übergriffen weniger litten als andere. Fachleute sprechen von «undeserving victims» – von Opfern, denen eine Mitschuld an einer Tat gegeben wird.
Er sagt: «Am Ende des Tages ist sie in einem bestimmten Beruf tätig. Ich bin wohl nicht der Einzige, mit dem sie sexuelle Handlungen hatte.»
Sie sagt: «Ich bin Prostituierte und war es auch damals. Aber überlegen Sie sich: Wie wäre das bei einer normalen Frau gewesen? Das zerstört einen, ein Leben lang.»
Staatsanwältin Runa Meier hat immer wieder mit Gewalt im Milieu zu tun. In den Fall Uster ist sie nicht involviert und äussert sich auch nicht dazu. Sie verfolgt anders gelagerte Fälle: solche, in denen der Verdacht von Menschenhandel im Raum steht.
Die Prostituierten, mit denen Meier dabei in Kontakt kommt, arbeiten zu den schlimmsten Bedingungen der Branche. Manche berichten von 15 bis 20 Freiern am Tag, Dumpingpreisen und totaler Abhängigkeit von ihren Zuhältern.
«Wenn ich diese Opfer frage, ob sie schon einmal sexuelle Gewalt durch Freier erlebt hätten, sagen alle Ja», erzählt Meier. «Aber es ist in der Regel fast unmöglich zu beweisen.»
Bruchstückhafte Erinnerungen, fehlende schriftliche Belege und Ausbeuter, die ihren Opfern den Zugang zur Polizei erschweren: All das mache die Beweisführung schwierig; Meier spricht von einem «quasi rechtsfreien Raum». Dazu kommt die Tatsache, dass Sexarbeiterinnen nicht dem klassischen Opferbild entsprechen. Sie erlebe es bei ihren Fällen oft, dass es an Sensibilität fehle für die Situation, in der sich Prostituierte befänden.
«Sie gelten als zwielichtig, als nicht integer», sagt Meier. «Ich erlebe es immer wieder, dass ihnen mit Misstrauen, fast Verachtung, begegnet wird.»
Viele der Frauen – ob Opfer von Menschenhandel oder nicht – fürchten sich ihrerseits vor rechtlichen Konsequenzen. Etwa weil sie illegal im Land sind, jenseits der erlaubten Strichplätze anschaffen oder Drogen konsumieren.
Er sagt: «Sie hat mir von ihrer Nasen-OP erzählt und davon, wie sie das Kokain jetzt ins Glas tut und trinkt. Immer wieder hat sie ihr Glas gefüllt und getrunken.»
Sie sagt: «Es gefällt mir nicht, zu konsumieren, aber es sind so viele Stunden. Wir bleiben lange bei den Kunden, da nimmst du ab und zu eine Linie, um wach zu bleiben.»
Das Verfahren
Vor dem Bezirksgericht Uster hält die Staatsanwältin all das fest, was den Beschuldigten belastet: das LSD, die Spermaspuren – und widersprüchliche Aussagen.
Er habe zugegeben, dass sie unter Substanzeinfluss gestanden habe, wehrlos gewesen sei – und trotzdem mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt, fügt die Anwältin des mutmasslichen Opfers an. Dass sie als Sexarbeiterin die Penetration ohne Kondom initiiert habe und freiwillig neun statt wie ausgemacht fünf Stunden geblieben sein soll – das ergebe wenig Sinn.
Sie sagt: «Ich mache das immer nur geschützt. Ich unterstreiche das.»
Er sagt: «Ich würde so etwas nie machen. Unabhängig davon, was für eine Frau das ist.»
Der Verteidiger des Beschuldigten argumentiert, dass erhebliche Zweifel an der Darstellung der Sexarbeiterin bestünden. Er beschreibt sie als «hysterisch» – als Frau, die viele Drogen konsumiert, so die Kontrolle verloren und dann willkürliche und unwahre Behauptungen aufgestellt habe. Er warnt zudem vor voreiligen Schlüssen: Ihre Verletzungen könnten auch von jemand anderem stammen, ebenso wie die Spermaspuren.
«Sie ist im Escort-Service tätig», sagt der Verteidiger. «Sie hat mit vielen Kunden sexuellen Kontakt.»
Diese Argumentationslinie zeigt exemplarisch die Vertracktheit solcher Fälle auf: Das erhöhte Risiko von Sexarbeiterinnen, einem sexuellen Übergriff ausgesetzt zu sein, macht einerseits die Strafverfolgung besonders nötig. Andererseits erschwert gerade das vor Gericht die Wahrheitsfindung.
Selbst bei idealen Voraussetzungen – dem frühen Gang zur Polizei, einer aussagekräftigen medizinischen Untersuchung – bleibt es oftmals unmöglich, herauszufinden, was wirklich geschehen ist.
Das Urteil
Das Bezirksgericht Uster spricht den Beschuldigten am Ende frei – aus Mangel an Beweisen. Was genau passiert sei, bleibe unklar, so der vorsitzende Richter. «Keiner hat’s erklärt, keiner kann’s erklären.»
Er und seine zwei Kolleginnen glaubten nicht, dass die Sexarbeiterin etwas erfunden oder böswillig behauptet habe. Auch ihr Blackout stellen sie nicht grundsätzlich infrage. Es fehlten für eine Schändung jedoch die «harten Fakten». Man könne nicht ausschliessen, dass sie wegen körperlicher Überlastung und zu viel Alkohol- und Drogenkonsum kollabiert sei.
Zu den Verletzungen im Genitalbereich sagt der Richter, diese seien – wie das Opfer selbst einmal bemerkt habe – ein «gewisses Berufsrisiko». «Man darf nicht vergessen, dass sie ein exponiertes Gewerbe ausführt.»
Zuvor, in der Befragung, hat der Richter die beiden noch gefragt, wie es um ihre Zukunftspläne stehe.
Er sagt: «Ich will nach Mallorca auswandern.»
Sie sagt: «Ich versuche, zu Hause mein Leben neu zu beginnen. Aber es ist schwierig. Ich weine jeden Tag.»