Die Ethikkommission ermittelt gegen den FIA-Präsidenten Mohammed Ben Sulayem. Der Red-Bull-Teamchef Christian Horner ergreift derweil die Flucht nach vorn.
Der umstrittenste Mann der vergangenen Woche in der Formel 1 sagt über den umstrittensten Mann in dieser Woche: «Ich würde dazu raten, nicht vorschnell zu urteilen. Warten Sie die Fakten ab, bevor Sie ein Urteil fällen.» So spricht Christian Horner, der Teamchef von Red Bull Racing ist und gerade vom Vorwurf des unangemessenen Verhaltens gegenüber einer Mitarbeiterin freigesprochen wurde, über Mohammed Ben Sulayem, den Präsidenten des Automobilweltverbandes (FIA), gegen den zurzeit die Ethikkommission ermittelt.
Die neue Formel-1-Saison erlebt am Samstag mit dem Grand Prix von Saudiarabien erst das zweite Rennen, aber nachdem bereits die Winterpause unruhig gewesen ist, verfestigt sich der Eindruck, dass die Königsklasse des Motorsports voller Skandale ist.
Mit dem gegenseitigen Vertrauen war das schon immer so eine Sache in der Formel 1. Doch nun, da in den besagten Fällen die angeblichen Enthüllungen von Whistleblowern das sportliche Geschehen überschatten, ist die Stimmung im Fahrerlager vergiftet. Alle scheinen auf die nächste Enthüllung zu warten.
Die direkt beteiligten Parteien versuchen nicht bloss fieberhaft herauszufinden, wer vertrauliche Informationen durchsticht, sondern vor allem auch, warum. Alle anderen beobachten die sich verschiebenden Koalitionen ebenso aufmerksam. Wer weiss schon, ob nicht ein eigener Vorteil aus der Gemengelage erwachsen könnte.
Horner beschwört die Harmonie und Einigkeit im Red-Bull-Team
Christian Horner hat die Flucht nach vorn angetreten, offensiv, wie es die Art des Briten ist. Er wolle einen Schlussstrich unter die Affäre ziehen, der Fokus gelte nur noch der Zukunft. Er beschwört dazu die Harmonie und Einigkeit, die das Team so erfolgreich gemacht habe. Die Mitarbeiterin, die Vorwürfe gegen ihn erhoben hatte, gehört demnach der Vergangenheit an; sie soll mittlerweile wegen Unehrlichkeit beurlaubt worden sein. Ob damit die gewünschte Ruhe im führenden Rennstall einkehrt, ist fraglich. Hatte doch Jos Verstappen, der Vater des bis 2028 an Red Bull gebundenen Weltmeisters Max Verstappen, nach dessen Sieg zum Saisonauftakt in Bahrain gesagt, dass das Team Gefahr laufe, auseinandergerissen zu werden, wenn Horner bleibe: «Es wird explodieren.»
Verstappen senior bestreitet, dass er der Drahtzieher im Machtkampf sei, der wohl zwischen der österreichischen Konzernzentrale und dem britischen Rennteam tobt. Doch er könnte den Boten spielen. Der Sohn sagte in Jidda jedenfalls: «Mein Papa ist kein Lügner, so viel ist sicher.»
Max Verstappen has defended his father Jos speaking his mind in criticising Red Bull #Formula1 boss Christian Horner – insisting “he’s not a liar.” pic.twitter.com/tmWp5kG7qP
— Motorsport.com (@Motorsport) March 7, 2024
Jos Verstappen ist vor allem einer, der alle Facetten des Geschäfts kennt. Und nicht wenige im Fahrerlager glauben, dass er aus dem Fall Horner seinen Vorteil ziehen will. Etwa den laufenden Vertrag des dreifachen Champions verbessern, eine Ausstiegsklausel manifestieren lassen oder ganz schnell einen Wechsel zum Mercedes-Team bewerkstelligen, in dem das Cockpit von Lewis Hamilton nächste Saison frei wird.
Die Spekulation elektrisiert alle, denn ein Dementi gibt es von keiner Seite. Der Mercedes-Teamchef Toto Wolff hatte bereits verlauten lassen, einen gewagten Transfer tätigen zu wollen. Max Verstappen sprach von der Absicht, in seinem Team zu bleiben, jedenfalls solange die Leistung stimme. Es habe klärende Gespräche mit Christian Horner gegeben. Ein Burgfrieden, um über die nächsten Runden zu kommen. Aber auch, um allen Parteien die Möglichkeit zu geben, ihre Optionen zu sondieren. Lewis Hamilton ist sich sicher, dass Verstappen bei Mercedes auf der Liste steht. Horner glaubt zu wissen, dass sein Schützling den Vertrag erfüllt.
Und wenn der Rekordweltmeister Lewis Hamilton darüber sinniert, dass es ein entscheidender Moment für den Motorsport sei, um seine wahren Werte zu zeigen, dann meint er damit nicht nur die Frage nach den internen Vorgängen bei Red Bull.
Hat Ben Sulayem unerlaubt Einfluss genommen?
Gegen den in der Formel 1 für seine Amtsführung ohnehin stark umstrittenen FIA-Präsidenten Mohammed Ben Sulayem ermittelt die Ethikkommission des Verbandes. Häppchenweise hat in dieser Woche ein Whistleblower Nachrichten durchgestochen.
Mohammed Ben Sulayem: FIA President under investigation for alleged attempt to interfere over F1 race – BBC Sport https://t.co/F7MaQt27O8
— Andrew Benson (@andrewbensonf1) March 4, 2024
Zum einen soll Ben Sulayem vor Jahresfrist beim Rennen in Saudiarabien versucht haben, Einfluss auf eine Zeitstrafe gegen Fernando Alonso zu nehmen. Tatsächlich hatte der Spanier seinen dritten Platz zurückbekommen, aber nach einem Einspruch seines Teams. Ben Sulayem soll zuvor mittels Anruf beim arabischen Funktionär Abdulla bin Hamad bin Isa Al Khalifa eine Ergebniskorrektur gefordert haben. Es müsse sichergestellt werden, dass die Rennleitung weiterhin unabhängig handeln könne, sagte George Russell, der Sprecher der Fahrergewerkschaft: «Wir brauchen die totale Transparenz in diesem Fall.»
Der zweite Vorwurf gegen den Top-Funktionär des Motorsports wiegt noch schwerer. Angeblich soll er versucht haben, die Lizenzierung der Rennstrecke in Las Vegas zu verhindern. Der Grand Prix in der Kasinostadt war die bisher grösste Investition von Liberty Media, dem Rechteinhaber der Formel 1. Eine Absage des Spektakels hätte einen enormen Schaden nicht nur finanzieller Art bedeutet. Zwischen dem vom Hollywoodkonzern eingesetzten Formula One Management (FOM) und Ben Sulayem tobt ein Dauerstreit; würde sich der Vorwurf bestätigen, wäre das der nächste Skandal.