Nach dem Vorfall während eines Besuchs des griechischen Ministerpräsidenten in Odessa kursieren widersprüchliche Erklärungen. Westliche Politiker müssen sich überlegen, wie sicher ihre Besuche im Kriegsland sind.
Der ukrainische Präsident und Griechenlands Regierungschef sind am Mittwoch relativ knapp einem russischen Raketenangriff entgangen. Wie nah der Einschlag in Odessa den Delegationen kam, ist unklar: CNN schreibt von 500 Metern, griechische Medien unter Berufung auf Regierungsquellen von weniger als 200. Der Osint-Spezialist Mark Krutov geht hingegen von einer grösseren Distanz aus. Jedenfalls flohen Wolodimir Selenski und Kyriakos Mitsotakis in ihren Autos, die Explosion war spür- und sichtbar. Die Delegationen blieben unverletzt, doch im Hafengelände Odessas kamen fünf Menschen ums Leben.
Seither wird darüber spekuliert, ob Moskau das Treffen bewusst ins Visier nahm. Blogger und griechische Quellen schreiben, der Angriff habe Selenski gegolten, belegen dies aber nicht. Moskau und Kiew stellten einen Zusammenhang in Abrede: Während die Ukrainer von einem weiteren Beispiel willkürlicher Bombardierung reden, behaupten die Russen, sie hätten einen Hangar mit Marinedrohnen beschossen.
Moskaus Rache für ein versenktes Kriegsschiff?
Diese Erklärung wirkt plausibel. Die Ukrainer hatten in der Nacht auf Dienstag ein modernes Patrouillenschiff der Russen versenkt – das dritte Boot seit Februar. Stets kamen dabei Marinedrohnen zum Einsatz, wobei Odessa als wichtigster Hafen auch grosse militärische Bedeutung für das Schwarze Meer hat. Die Russen schlagen nach solchen Angriffen regelmässig zurück.
Dabei ist es ihnen egal, ob zivile oder militärische Ziele zerstört werden. Für sie ist der Hafen von Odessa auch als Hub für ukrainische Getreideexporte ein legitimes Ziel. Blockieren können die Russen diese nicht mehr, weil ihre Schwarzmeerflotte geschwächt ist. Stattdessen haben sie laut ukrainischen Angaben seit ihrer einseitigen Aufkündigung des Getreideabkommens im Juli 2023 den Hafen 880 Mal mit Drohnen und 170 Mal mit Raketen attackiert.
Dennoch stellen sich nun neue Sicherheitsfragen: Soweit bekannt, gab es bisher keine Einschläge so nahe an Spitzenpolitikern, obwohl etwa Selenski regelmässig frontnahe Orte besucht. Internationale Delegationen bereisen die Ukraine ebenfalls regelmässig, laut der ukrainischen Eisenbahn seit der Invasion über 700 Mal. Bedrohliche Situationen gab es nur vereinzelt. So brach die deutsche Aussenministerin Baerbock im Februar einen Besuch in Mikolajiw ab, weil ihr eine russische Aufklärungsdrohne folgte.
Auch wenn dies offiziell nicht bestätigt wird, liegt nahe, dass Moskau über die Routen hochrangiger Politiker in Kenntnis gesetzt wird, um Unfälle zu vermeiden. Als Joe Biden im letzten Sommer Kiew besuchte, war dies kaum geheim zu halten. Gerüchte über die Visite zirkulierten bereits am Vorabend. Laut Medienberichten wurden die Russen informiert, ebenso wie beim Besuch der EU-Kommissions-Präsidentin. Ein Minister bestätigte der NZZ 2022 ebenfalls, dass die Russen über seine Reise «wohl Bescheid wissen», ohne Details zu nennen.
Politische Morde im Krieg haben unberechenbare Folgen
Auch wenn ein Attentat auf Selenski und seinen Besucher in Odessa möglich ist, haben prinzipiell alle ein Interesse daran, den Krieg durch eine solche Provokation nicht weiter zu eskalieren. Eine gezielte Tötung kann eine kaum kontrollierbare Dynamik in Gang bringen. Attentate auf die politische Spitze des Kriegsgegners sind historisch sehr selten. 1914 löste die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers durch serbische Verschwörer direkt den Ersten Weltkrieg aus.
Nähme Russland ausländische Regierungschefs gezielt ins Visier, riskierte es, den Westen noch direkter in den Ukraine-Krieg hineinzuziehen. Auch die Ukrainer schrecken vor solchen Schritten gegen Putin und seine unmittelbare Umgebung zurück, auch wenn der Militärgeheimdienst wiederholt ranghohe Kollaborateure ermordete.
Selbst wenn die Raketen aber nur zufällig in der Nähe der Spitzenpolitiker in Odessa einschlugen, dürfte sich Moskau über die Folgen freuen: Westliche Regierungschefs werden sich nun zweimal überlegen, ob sie ihre Unterstützung durch persönliche Besuche untermauern wollen oder aus Sicherheitsgründen zu Hause bleiben.