Tezer Özlü hat zu Beginn der 1980er Jahre «Suche nach den Spuren eines Selbstmordes» auf Deutsch geschrieben. Das Buch wurde damals jedoch nur auf Türkisch veröffentlicht. Vierzig Jahre später erscheint es nun auf Deutsch.
Erstmals auf Deutsch erscheint eines der grossen deutschsprachigen Werke der 1980er Jahre. Die türkische Autorin Tezer Özlü, 1943 im anatolischen Simav geboren und 1986 in Zürich gestorben, war Übersetzerin deutschsprachiger Autoren, als sie Anfang der 1980er Jahre als Stipendiatin nach Berlin kam. Sie hatte zwei Bücher auf Türkisch publiziert, schrieb dann aber «Suche nach den Spuren eines Selbstmordes» 1982 auf Deutsch.
Das Manuskript wurde damals sofort mit dem Marburger Literaturpreis ausgezeichnet, das Buch erschien 1983 jedoch nur in Özlüs eigener türkischer Übersetzung. Dass dieses Werk nun endlich auf Deutsch vorliegt, ist ein Glück und eine Entdeckung. Im Untertitel wird das Buch als «Variationen über Cesare Pavese» bezeichnet. Es folgt einer namenlosen Ich-Erzählerin, die Paveses Erzählung «Maisfeld» übersetzt hat und 1981 eine zweiwöchige Reise von Berlin nach Turin unternimmt. Sie sucht sogar das Hotelzimmer auf, in dem sich der italienische Schriftsteller 1950 im Alter von 41 Jahren das Leben nahm.
Die Reise und die Suche, von der das Buch erzählt, hat zwei Ziele: «endlich die Ortschaften Paveses zu sehen» und «endlich ihre Phantasiebilder auszuleben». Die Erzählerin will die Orte aus Paveses literarischem Kosmos sowie aus seinem Leben besuchen und dabei verstehen lernen, woher seine literarische Grösse rührt.
Viel wichtiger aber wird bald, dass sie auf dieser Reise ihre Phantasiebilder schreibend auslebt. Denn das Buch ist die grandiose Selbstfindung einer Autorin, die sich frei schreibt von Erwartungen und Konventionen des Literaturmarkts und ein Kunstwerk von Weisheit erzeugt. «Ich beschliesse, alles auszusprechen. Zu schreiben. Es gibt keine andere Möglichkeit des Schreiens. So schreie ich. Und ich bin es, die mich hört.»
Besuche bei den Toten
Die Reise von Berlin nach Turin dauert elf Tage und ist getaktet von Momenten des Innehaltens, von Begegnungen mit flüchtigen Zug- und Hotelbekanntschaften, vor allem aber von literarischen Treffen mit toten Schriftstellern, die für Schreibende mitunter lebendiger sind als die Menschen des eigenen Lebens: «Mut geben mir nur die Toten. Die Toten, in deren Beschreibungen ich lebe. Die Toten, die als Einzige aus dieser verdammten Welt eine lebenswerte machen. Die Toten, die alles gegeben haben, was die Welt braucht.»
Die Begegnung mit den Spuren dieser literarischen Ahnen gibt der Autorin einen Antrieb und eine Daseinsberechtigung, die sie sonst nirgends im Leben zu finden scheint. Ihre Rastlosigkeit beschreibt sie als «Flucht in diese Reise», aber auch als Ausbruch aus «Grenzen» und «Ketten». In den verschiedenen Städten treibt sie ziellos umher, hält bald nur inne, um zu schreiben, und hört mit dem Schreiben nur auf, um schnell weiterzukommen.
Mit «Suche nach den Spuren eines Selbstmordes» lässt Özlü ein Werk von existenzieller Wucht und tiefgründiger Selbsterforschung entstehen. Das schonungslose Eintauchen ins Innere und die Verlorenheit in einer gefallenen Welt, die nur durch Literatur erhöht werden kann – all das ist so gross wie in Peter Weiss’ «Abschied von den Eltern», Paul Nizons «Das Jahr der Liebe» oder Sylvia Plaths «Die Glasglocke».
Es überrascht nebenbei, wie erschreckend politisch aktuell das Buch ist, wenn die Erzählerin über den Konflikt zwischen Israel und Palästina nachdenkt. Oder wenn sie voll Schmerz und Melancholie türkische Gastarbeiter von einem Hotelzimmer aus beobachtet und die Widersprüche der kapitalistischen Welt herausschält, dass zwar Waren, aber keine Menschen ungehindert Grenzen passieren dürfen: «Ich begriff, dass es das grösste Elend unserer Zeit ist, Emigrant aus wirtschaftlichen Gründen zu sein.»
Eine Reise nach innen
Hier und anderswo wirken Özlüs Sätze wie in die Welt geschossen: «Man muss auch seinen Tod wert sein.» Dann wieder wird die sezierende Schärfe ihrer Sprache aufgeweicht von leichtem Humor oder grosser Feinfühligkeit: «Er sieht so zärtlich aus, dass ich den Eindruck habe, er könne zerbrechen, wenn ich ihn anfasse.»
In ihrem Nachwort schreibt Özlüs Freundin, die Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar, die Autorin begebe sich in diesem Buch «auf zwei Reisen. Eine Reise geht zu den Schriftstellern, die du sehr geliebt hast: Kafka, Pavese, Svevo. Die andere Reise geht in dich hinein.»
Beim Lesen reist man ins Innere der Figur, aber vor allem ins Innere des eigenen Ich. Wie immer bei grosser Literatur ist man konfrontiert mit der eigenen Existenz. Man ist zum Nachdenken angehalten, über Schmerz und Liebe, über Leben und Sterben, vor allem über die Leuchtkraft des Literarischen: «Die Literatur entsteht dort, wo die Grenzen des Lebens und des Todes den Schmerz nicht mehr halten können.»
Und langsam wird beim Lesen das eigentliche Ziel der Erzählerin klar. Die Suche auf den Spuren von Paveses Selbstmord ist eine lebensnotwendige Flucht vor den eigenen suizidalen Gedanken. Die Dringlichkeit von Özlüs Kunst macht eines aber noch deutlicher: Wer die Literatur hat, braucht den Selbstmord nicht.
Tezer Özlü: Suche nach den Spuren eines Selbstmordes. Variationen über Cesare Pavese. Mit einem Nachwort von Emine Sevgi Özdamar. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 208 S., Fr. 34.90.