Aufzeichnungen eines ESC-Tages voller Widersprüche.
Die Bäckerei Sutter veranstaltete eine Karaoke-Party und verkauft ein fischförmiges Zuckergebäck namens Nemo. Die Universität Basel machte einen eigenen Song-Contest und suchte das beste durch künstliche Intelligenz generierte Lied. Public Viewings in Kinos sind geplant. Ein Lokal nennt sich jetzt 12-Points-ESC-Bar. Es gab sogar schon eine Ü-60-Disco.
Basel ist Gastgeber des diesjährigen Eurovision Song Contest. Und alle wollen profitieren.
Der ESC ist ein Event der Superlative. 180 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer machen ihn zur weltweit grössten Unterhaltungsshow. Entsprechend gross ist der Aufwand. Der Kanton Basel-Stadt hat einen Kredit von fast 40 Millionen Franken gesprochen, die SRG, die den ESC produziert, hat zusätzliche 20 Millionen Franken dafür budgetiert.
Ein Teil des Geldes fliesst zurück. Laut einer Studie sollen 2023 rund 62 Millionen Franken in die Hotellerie, die Gastronomie, den Detailhandel und den öffentlichen Verkehr der Stadt Liverpool geflossen sein, des Austragungsorts des damaligen ESC.
Was macht der ESC mit Basel, und was macht Basel aus dem ESC?
Der ESC als Stadt in der Stadt
Basel schläft an diesem Sonntag aus, als wüsste die Stadt, dass es ein langer Tag wird. Es ist der offizielle Eröffnungstag des ESC.
Im «Zum schiefen Eck», einer Beiz am Claraplatz, sitzen am Vormittag schon ein paar Leute draussen. Vier Männer im pensionsverdächtigen Alter. Zwischen ihnen: träge Gespräche und leere Biergläser. Zum Eurovision Song Contest habe er noch keine Meinung, sagt einer von ihnen, der Anlass beginne ja erst. Dann schiebt er nach, diesmal mit klarer Meinung: Früher sei es noch um Chansons gegangen, heute gehe es nur noch um Politisches. Die Eröffnungsparade, sagt der Mann schliesslich, werde er sich aber anschauen.
Allmählich erwacht die Stadt, die Leute schlendern Richtung Marktplatz über die Mittlere Rheinbrücke, die mit roten, blauen und grünen ESC-Fähnchen dekoriert ist. Es ist eine Eigenheit solcher Grossanlässe, dass die jeweiligen Organisatoren der Stadt ein Marketingkleid überziehen. Tafeln, Plakate, Banner mit dem immergleichen Logo und dem immergleichen Schriftzug. Auch die Sprache: Der Barfüsserplatz ist für ein paar Tage der Eurovision Square, die Steinenvorstadt wird zur Eurovision Street und die Messehalle zum Eurovision Village.
An den ESC-Standorten stehen grössere und kleinere Bühnen, wo täglich Konzerte stattfinden, es gibt Merchandise- und Verpflegungsstände, Workshops, ein Café und sogar einen Nachtklub. Der ESC ist eine Stadt in der Stadt.
Das Gewerbe liefert eigene Schauplätze: Beim Kasernenareal findet an diesem Morgen ein «Queer-Brunch» statt, in der Confiserie Beschle an der Aeschenvorstadt läuft ein Rave. In den Glasregalen stapeln sich Sandwiches und Törtchen, darüber gehen Gläser mit Aperol Spritz über die Theke. Die Musik ist ohrenbetäubend laut, es ist 12 Uhr am Mittag.
Auch Basel baut mit. Die Trams fahren während der ESC-Woche häufiger und länger. Es gibt Stadtführungen zur Geschichte der Homosexuellen in Basel und eine eigene ESC-App namens «Welcome Home». Basel inszeniert sich als weltoffen.
Gemischtes Publikum bei der Parade
Der ESC, das ist der Inbegriff der Inszenierung. Die Eröffnungszeremonie am Sonntagnachmittag liefert einen Vorgeschmack auf die grossen Shows. Die beiden Halbfinals finden am Dienstag und am Donnerstag statt, der grosse Final in der St.-Jakobs-Halle am Samstag. Nacheinander kommen nun die 37 Kandidatinnen und Kandidaten des ESC aus dem Rathaus und präsentieren sich den Tausenden Schaulustigen.
Allein die Menschenansammlung ist ein Ereignis, der Marktplatz ein Querschnitt zahlreicher Interessengruppen: Da treffen Demonstranten mit Palästina-Flaggen auf ältere Frauen mit Cüpli in der Hand, ein junger Mann mit transparentem Shirt und Regenbogenfarben im Gesicht auf zwei bauchfreie 14-Jährige, ein Vater und ein Sohn mit einem Trikot des FC Basel auf Gruppen mit spanischen oder portugiesischen Flaggen.
Die Künstlerinnen und Künstler besteigen alte Trams und Oldtimer und fahren durch die Stadt. Zwischen den einzelnen Wagen laufen Fasnachtscliquen, die flöten und trommeln. Wie Fasnacht sei das, nur im Sommer, sagt eine Zuschauerin. Weit weg scheinen die Sicherheitsbedenken, vergessen die Volksabstimmung, welche die rechtskonservative EDU mittels Referendum erzwang. Die Stimmung in Basel ist beim Startschuss zur Woche der Ausgelassenheit friedlich.
«Basel leuchtet, klingt, tanzt», schrieb der Regierungspräsident Conradin Cramer am Sonntag in einem euphorischen Beitrag in der Lokalzeitung. «Das ist Europa, wie wir es uns wünschen.»
Nach der Parade zieht die Menschenmenge Richtung Messehalle alias Eurovision Village. Davor lange Schlangen, die Wartezeit beträgt fast zwanzig Minuten. Vermutlich auch deshalb, weil streng kontrolliert wird. Wer hinweinwill, muss durch einen Detektor, als besteige er ein Flugzeug. Handgepäck ist nicht erlaubt, weder Rucksack noch Hand- oder Bauchtasche.
Innerhalb des Eurovision Village: Sponsoren- und Verpflegungsstände, zwei riesige Bühnen in schummrigem Licht. Eine Mischung aus Bierzelt, Generalversammlung und Konzerthalle. Der langjährige ESC-Kommentator Sven Epiney kommt gerade an und filmt eine der Bühnen. Er ist nicht der einzige Prominente, der diese Woche in Basel zu sehen sein wird. Der ESC ist auch immer eine Menge Glanz und Gloria.
Pat’s Big Band rockt vor den FCB-Fans
Am Sonntagabend, der Tag neigt sich bald zu Ende, ereilt um halb sieben plötzlich ein anderes Grossereignis die Stadt: Der FC Basel ist Schweizer Fussballmeister, weil sein Hauptkonkurrent sein Spiel nicht hat gewinnen können.
Nun strömen die FCB-Fans Richtung Barfüsserplatz, wo der Klub und seine Anhänger für gewöhnlich die Titel feiern. Doch dieser heisst jetzt Eurovision Square, und das dortige ESC-Rahmenprogramm ist noch in vollem Gange. Pat’s Big Band, ein Swing-Ensemble aus zwanzig Musikern, spielt auf der grossen Bühne «Y. M. C. A.» von Village People. Oben, auf der Tribüne, klatschen die Leute mit, unten, im Stehplatzbereich, halten ein paar Männer Schals des FC Basel hoch. Alles beginnt sich zu vermischen.
Irgendwann sagt Pat, der Leiter der Band: «Wir müssen, nein wir dürfen etwas früher aufhören, weil der FCB Meister geworden ist.» Eigentlich hätten noch bis Mitternacht Konzerte stattfinden sollen. Doch weil der FCB seinen Meistertitel feiert, endet das Programm bereits um halb acht.
Plötzlich ist der Eurovision Square wieder der Barfüsserplatz, zumindest für ein paar Stunden.