Einst war die Route nationale 7 der schnellste Weg von Paris oder Lyon an die Côte d’Azur. Dann kam die Autobahn. In den Teer der alten Südstrasse frassen sich Schlaglöcher, in die angrenzenden Geschäfte und Gaststätten Leerstand. Doch der Geist Frankreichs blieb.
Alles beginnt mit einem Stillstand. Auf der französischen A 7 kurz vor Montélimar bewegt sich nichts mehr. Weiss an Weiss, Grau an Schwarz stehen die Autos; Stau bis Grenoble, heisst es auf den digitalen Anzeigetafeln über der Autobahn.
Aber nur wenige Meter weiter vorne ein Lichtblick: eine Ausfahrt. Wer sie nimmt, rollt in eine andere Welt. Jenseits der vielspurigen Teerstrasse, die die Landschaft zerschneidet, liegt Frankreich.
Jenseits der Autobahn
Das eben noch störende Blenden der Abendsonne wird von einer Platanenallee aufgefangen. Hinter den Stämmen ein Weinberg. Es ist Mai, am Strassenrand blüht der gelbe Ginster. Zwischen den Büschen steckt ein Schild: «Attention aux enfants».
Dann tauchen die ersten aneinandergeschmiegten Steinhäuser eines Dorfes auf. Efeu, verblasste Schriftzüge und neue Schilder an den Fassaden, bunte Fensterläden, Bänke neben den farbigen Haustüren und Lichterketten im Baum vor der Dorftaverne. Durch das offene Fenster mischt sich für kurze Zeit die schunkelige Musik aus der Taverne mit dem Pop im Auto.
Hier, im Département Drôme, trägt diese Strasse, die nicht irgendeine ist, sondern ein französischer Mythos, ein kilometerlanger Sehnsuchtsort, gesäumt von verblichenen Strassenschildern, längst geschlossenen Tankstellen und der Fülle französischer Landschaften, noch ihren bekanntesten Namen: Route nationale 7, kurz N 7.
Ein historisches Phantom
«On est heureux Nationale 7 / Route des vacances / Qui traverse la plus belle partie de la France», sang der Chansonnier Charles Trenet 1955. Man ist glücklich auf der Nationale 7, der Ferienstrasse, die durch den Grossteil Frankreichs führt. Mit ihren 996 Kilometern von Paris bis Menton, nahe der italienischen Grenze, war die N 7 einst Frankreichs längste und meistbefahrene Fernstrasse. Nicht nur in Liedern, auch in Filmen, Büchern und einem Comic kommt sie vor.
Doch als 1970 die Autobahn 7 in Betrieb genommen wurde, stellte diese die altehrwürdige «Route du Soleil» mehr und mehr in den Schatten. Die N 7 wurde zur Département- oder Gemeindestrasse herabgestuft und von politischen Regulierungen in Teilstücke gehackt, für die nicht mehr Paris, sondern die lokalen Behörden zuständig sind.
Wer die alte Nationalstrasse heute befahren will, braucht eine Karte und ein gutes Vorstellungsvermögen: Die ehemaligen N-7-Kilometersteine und Wegweiser gibt es nicht mehr. Ganze Streckenabschnitte wurden stillgelegt oder umfunktioniert. Geblieben sind einzig Faszination und Nostalgie. Denn man fährt auf den Spuren der alten N 7 nicht nur durch ein Land, sondern auch durch seine Geschichte. Sieht nicht nur die Landschaften, sondern ein bisschen auch die französische Seele.
Die glorreichen Jahre
Ihre ganz grosse Zeit hatte die «Route du Soleil» gemeinsam mit Frankreich selbst: Les Trente Glorieuses, die glorreichen dreissig Jahre, begannen mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und hielten bis zur Ölkrise von 1979, als die Islamische Revolution in Iran einen Rückgang der dortigen Ölförderung auslöste, was zu einem weltweiten Preisanstieg diverser Waren führte.
Bereits 1936 hatte Frankreich bezahlte Jahresferien eingeführt. Doch erst das Wirtschaftswachstum nach dem Krieg hob den Lebensstandard der meisten Franzosen auf ein Niveau, von dem aus regelmässige Restaurantbesuche, ein eigenes Auto oder lange Sommer am Meer erreichbar waren. Ein bisschen muss es sich damals angefühlt haben, als ginge es im Leben und mit der Welt nur noch aufwärts. Dieses Gefühl immerwährender Prosperität symbolisierte auch die Strasse Richtung Sonne.
Um den Nationalfeiertag am 14. Juli setzte sich jeweils ein Autotross von Norden gen Süden in Bewegung. Da fuhren die Citroën DS und ihre kleine Schwester 2CV, der Renault 4CV, den sie «Choupinette» nannten, oder der Peugeot 204. Fotos und körnige Filmaufnahmen zeugen bis heute vom Schaufahren französischer Ingenieurskunst. Modelle, die damals für den Aufbruch in eine immer komfortabler und schneller werdende Zukunft standen – und heute als Oldtimer Sehnsucht nach der scheinbar schöneren, gemächlicheren Vergangenheit auslösen.
Natürlich gab es auch damals Stress – und Stau sowieso. Er gehörte sogar so sehr zur N 7, dass das Städtchen Lapalisse die «Embouteillage», den Stau von einst, heute alle zwei Jahre im Oktober mit Oldtimern, Festmusik und Petticoats nachstellt.
Rot an Blau an Gelb an Grün stehen die Autos dann wieder. Wie heute auf der Autobahn also, nur bunter. Und statt bei geschlossenen Fenstern die Klimaanlage am Laufen zu halten, steigt man wie damals aus, plaudert und picknickt am Strassenrand. «Savoir-vivre» und Welt, mit deren Tempo man mithalten kann.
Schönheit mit Schlaglöchern
Die Sehnsucht scheint in diese Strasse einbetoniert. Einst jene nach dem Meer und der Zukunft und nach der Freiheit wohl auch, die ein Auto und die Sommerferien versprachen. Nun die Sehnsucht nach einer scheinbar glorreicheren Vergangenheit.
Auch wir setzen uns im Juli erneut in den alten gelben VW-Bus, der über ein Bett verfügt, aber keine Klimaanlage hat, und fahren auf der alten Strasse von der Schweizer Grenze gen Süden, bis hinunter ans Meer.
Man lässt das Fenster herunter, spürt an der kühlen Luft den nahen Wald, riecht, dass die Rhone nur wenige Meter neben der Strasse fliesst, und später, am Pinienduft, dass es Süden wird. Hört in der Auvergne eine erste Zikade singen, irgendwann viele, bis das Zirpen in der Camargue ohrenbetäubend wird.
In verwinkelten Städtchen regeln Ampelsysteme, aus welcher Richtung die für moderne Autos viel zu schmale Strasse während der nächsten Minuten befahren werden darf. Über die breiten Strassen zwischen neu gebauten Mehrfamilienhäusern spannen sich bunte Wimpel, und am Boden sorgen Schwellen aus Plastik für das «freiwillige Einhalten» von Tempo 30.
Hinter dem nächsten Kreisel aber fährt man erneut auf die Schnellstrasse, das Gaspedal darf bis 100 durchgedrückt werden. Wer das nicht augenblicklich tut, zieht den Ärger des Nachfahrers auf sich, dessen zerkratzte Stossstange deutlich macht: Der scheut keine Konfrontation.
Man bezahlt auf der N 7 keine Maut, diese Strasse kostet kein Geld, bloss mehr Zeit. Und der Entscheid, sie sich zu nehmen, obwohl es doch auch schneller ginge, fühlt sich nach Luxus an.
Man fährt hier nicht nur wegen spielender Kinder langsam, sondern auch, weil sich Schlaglöcher tief in den Teer gefressen haben und manche Strassenabschnitte zu besseren Feldwegen verkommen sind. Oder weil man erst Ausschau nach einem Café, dann nach einer noch betriebenen Tankstelle halten muss und später am Strassenrand einige reife Aprikosen von jenen Bäumen kauft, an denen man eben vorbeigefahren ist. Staub und Abgas inklusive.
In dieser Gemächlichkeit bleibt Zeit, um zu sehen, wie sich die Architektur verändert, die Farben der Landschaft und die Häufigkeit der Pastis-Schilder vor Bars und Restaurants (je südlicher, umso häufiger). So vermag die «Route du Soleil» noch immer – oder vielleicht jetzt erst recht – ein Gefühl zu vermitteln, das bei der Autobahn auf der Strecke bleibt: die Kilometer nicht nur zurückzulegen, sondern zu erfahren. Das Vorwärtskommen ist auf dieser Strasse auch eine Aneinanderreihung kleiner Ankünfte.
Der grosse Weg
Manche Reisende starten am einst offiziellen Anfangspunkt der N 7, der Porte d’Italie in Paris. Die meisten reihen sich später ein. In Lyon etwa, wo die älteste Vorfahrin der N 7 ihren Anfang nahm: die Via Aurelia. 20 v. Chr. zogen die Römer von Galliens Hauptstadt Lugdunum aus ein sternförmiges Strassennetz durch das Land. Eine der ersten fertiggestellten Strassen, die Via Aurelia, verband Lugdunum (Lyon) nach Norden mit Lutetia (Paris) und entlang der Rhone über Valentia (Valence), Arausio (Orange) und schliesslich der Mittelmeerküste folgend mit Rom.
Das Weströmische Reich ging unter, die Route aber blieb erhalten. 1552 notierte der königliche Drucker Charles Estienne in seinem «Guide des chemins de France», einer Art Ur-Reiseführer, in Lyon Richtung Süden beginne «der grosse Weg».
1824 tauchte erstmals die Sieben auf: Route royale 7 hiess die Strasse und dann – im Zuge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts erneut ausgebaut und begradigt – Route nationale 7. Zur gleichen Zeit wurden auch die Postkutschen schneller, um 1850 brachten sie es pro Tag auf etwa 100 Kilometer, damit brauchte man für die Reise von Paris nach Marseille, die zu Fuss etwa zwei Monate dauert, neun Tage.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Route nationale 7 zu einem Argument für den Ausbau der Eisenbahn: Das höhere Verkehrsaufkommen und die zahlreichen Händler mit ihren Waren zogen Wegelagerer an. Zur steigenden Kriminalität kam der hohe Verschleiss an Pferden – «Die Zahl der Pferde, die auf der Strasse umkommen und deren traurige Überreste man sieht, ist sehr hoch», notierte der Autor Henri Beyle, besser bekannt als Stendhal, 1837 in seinen «Mémoires d’un touriste».
Eine Anfahrt, keine Reise
Noch 1980 mass das «Guinness-Buch der Rekorde» auf der N 7 den längsten Stau der Welt: Von Lyon Richtung Paris standen die Autos auf 176 Kilometern. Danach wurden Dichtestress und Überfluss auf der N 7 rapide weniger.
In den Tagen nachdem Präsident Georges Pompidou 1970 mit seinem Renault 16 feierlich das letzte Teilstück der Autobahn 7 eingeweiht hatte, brach in Montélimar, wo die Südreisenden traditionell für Nougat anhielten, der Umsatz der Zuckerbäcker um 90 Prozent ein. Denn die Autobahn führt die Reisenden seither nicht mehr den Geschäften entlang, sondern in einem Bogen um Städte und Dörfer herum. Der über drei Jahrzehnte währende Strom an kaufwilligen, hungrigen und müden Autofahrern versiegte.
Statt in zwei bis drei Tagen legt man die Strecke Paris–Menton heute in einem eintägigen Kraftakt zurück. Für Einkäufe und Restaurantbesuche fehlte die Zeit, eine Übernachtung unterwegs wurde obsolet. Die Reise von einst wurde zur Anfahrt degradiert. Davon haben sich viele Geschäfte, Gasthäuser und ganze Dörfer bis heute kaum erholt.
In Auberives-sur-Varèze etwa herrscht Leerstand. Verblasste Schriftzüge an verlassenen Häusern. Manch ein Schaufenster scheint bereits so lange von Brettern vernagelt, dass Holz und Fassade miteinander verwachsen scheinen. In dieser Aussicht, die keiner Postkarte gleicht, verbirgt sich ein Gefühl, das stärker ist als die Nostalgie: die Angst, Frankreich könnte seine grössten Zeiten hinter sich haben. Auch dafür steht die einstige N 7 mit ihren Schlaglöchern und überwachsenen Strassenschildern.
Strassenranderscheinungen
Doch manche Gaststätten überlebten. Überquert man etwa in Vienne die Rhone, taucht das Restaurant «La Pyramide» auf: 1925 gegründet und seither vielfach ausgezeichnet. Es gehört heute zu einer von Frankreichs edelsten, längst international gewordenen Hotelvereinigungen, Relais & Châteaux.
In deren Portfolio befinden sich auch weitere Restaurants und Hotels, die direkt an der alten Südstrasse liegen. Ein Zufall ist das nicht. Auch die «Relais de Campagne», die später durch eine Fusion zur bekannten Hotelvereinigung wurden, sind eine Strassenranderscheinung der «Route du Soleil»; gegründet von zwei Variétékünstlern aus Paris, die zwischen Stau, Müdigkeit und Ferienvorfreude ihr wirtschaftliches Glück fanden.
Sonnengebleichte Welt
Die Stele am Strassenrand bei Pont de l’Isère am 45. Breitengrad ist sauber geputzt: «Ici commence le Midi de la France» – hier beginnt Südfrankreich. Durch das offene Autofenster hat man das natürlich längst gerochen: Weit vor Avignon, dessen berühmte Brücke von der Strasse aus gut zu sehen ist, blüht in violetten Bahnen der Lavendel.
Das Rhonetal endet, die Bergspitzen fallen in den Rückspiegel zurück, die Landschaft flacht ab, und mit ihr scheint sich auch der wasserblaue Himmel zu senken. Die Sonne kommt näher, brennt heisser. Mehr Sonnenstunden bedeuten auch: mehr Touristen. Neue Hotels tauchen am Strassenrand auf, dazu Geschäfte, die Campingartikel oder Windsurfzubehör verkaufen.
Die Welt scheint auszubleichen, hellblau, weiss und rosa sind die Fensterläden der Häuser nun, sandfarben ihre Fassaden, gelblich das Gras. Einzig der Oleander leuchtet, als würde sich in seinen Blüten alle Farbe des Südens bündeln. Und dann, ganz plötzlich und lange bevor man es sieht, riecht man das Meer.