Über einen Fall, über den man sich in Zeiten akuten Heilpädagogenmangels eigentlich nur wundern kann.
Im Kanton Zürich gibt es zu wenig Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Es fehlen Fachkräfte, die sich um jene Schüler kümmern, die mehr Aufmerksamkeit und Betreuung brauchen als die anderen Kinder und Jugendlichen im Schulzimmer. Die Not ist so gross, dass einige Primar- und Sekundarschulen sogar auf sogenannte Poldis zurückgreifen, also auf «Personen ohne Lehrdiplom», um ihren Personalbedarf in diesem Bereich zu decken.
Um als Heilpädagogin arbeiten zu können, braucht man in Zürich eigentlich einen Master-Abschluss in Schulischer Heilpädagogik. Angeboten wird eine solche Ausbildung unter anderem an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich.
Doch wegen des akuten Personalmangels operieren viele Schulen mit etlichen Ausnahmen. Derzeit arbeiten 1150 Lehrerinnen und Lehrer im heilpädagogischen Bereich, ohne über eine entsprechende Ausbildung zu verfügen. Lehrerinnen und Lehrer mit einem Heilpädagogik-Diplom gibt es etwas mehr (1265). In Ausbildung befinden sich 386 Lehrpersonen. Das hat eine Anfrage des Kantonsrats im November ergeben.
Wie kommt man auf die Schnelle zu mehr Heilpädagogen?
Ohne Sonderpädagogik-Studium dürfte es schwierig werden. Denn ohne ein solches dürfen Lehrerinnen und Lehrer nur vorübergehend als Heilpädagogen arbeiten. Der Zürcher Regierungsrat hat zwar vor Jahren einen Passus geschaffen, der es Lehrpersonen erleichtern soll, auf Heilpädagogik umzusteigen – sofern sie «berufsspezifische Aus- und Weiterbildungen» vorlegen können und über Berufserfahrung verfügen.
Der Fall einer Primarlehrerin zeigt jedoch, dass diese Bestimmung alles andere als klar – wenn nicht sogar toter Buchstabe ist.
Die Ausbildung, die die Behörden meinen
Salomé Watten, die in Wirklichkeit anders heisst, arbeitet seit 20 Jahren als Primarlehrerin im Kanton Zürich. Ab 2018 war sie an ihrer Schule auch als Heilpädagogin beschäftigt. Watten verfügt zwar über keinen Heilpädagogik-Master. Aber in den vergangenen Jahren hat sie mehrere Weiterbildungen in diesem Bereich absolviert.
An der HfH etwa hat sie drei Module besucht, so auch einen Kurs über Massnahmen für Schüler mit ADHS. Weiter hat Watten einen Diplomlehrgang in «Supervision, Coaching und Mediation» absolviert und eine eineinhalbjährige Weiterbildung in Begabtenförderung, die ebenfalls zu den Aufgaben von Heilpädagogen gehört. Der wichtigste Punkt im Lebenslauf der Lehrerin ist ein Weiterbildungsmaster über «Inklusive Pädagogik und Kommunikation». Angeboten wird dieser Studiengang vom Institut Unterstrass an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
Doch all diese Weiterbildungen genügen dem Volksschulamt nicht. Wattens Antrag, weiterhin und dieses Mal unbefristet als Heilpädagogin arbeiten zu dürfen, wird abgelehnt. Eine gleichwertige Ausbildung liege nicht vor, teilt das Amt in seiner Absage an Watten mit, die der NZZ vorliegt.
Das lässt die Lehrerin nicht auf sich sitzen. Sie gelangt an die Bildungsdirektion – und unterliegt erneut. Deren Abweisungsschreiben vom Frühling 2023 darf Watten immerhin entnehmen, dass ihre Weiterbildung am Institut Unterstrass «gewisse Themenfelder» beinhalte, die auch im Sonderpädagogikstudium vermittelt würden. Daraus könne aber nicht geschlossen werden, dass die Rekurrentin befähigt wäre, «qualitativ hochstehenden, den Bedürfnissen sonderschulbedürftiger Kinder und Jugendlicher angepassten Schulunterricht zu erteilen».
Auch die übrigen Leistungsausweise der Lehrerin kommen bei der Bildungsdirektion schlecht weg. Wattens Diplome werden Stück für Stück zerpflückt. Jede einzelne Fortbildung der Lehrerin wird mit dem mehrjährigen Sonderpädagogikstudium an der HfH verglichen – und zieht dabei den Kürzeren. Für die Bildungsdirektion scheinen die einzelnen Weiterbildungen im Vordergrund zu stehen, nicht das Gesamtpaket der Lehrerin.
Sie arbeitet zwar als Heilpädagogin – aber das zählt nicht
Bleibt die Frage der Berufserfahrung. Spätestens hier nimmt der Fall von Salomé Watten seltsame Züge an.
Das Volksschulamt hat der Primarlehrerin zweimal erlaubt, als Heilpädagogin zu arbeiten. 2018 für drei Jahre und 2021 für ein weiteres Jahr. Die Schulpflege ist offenbar sehr zufrieden mit ihrer Mitarbeiterin. In ihrem Zwischenzeugnis heisst es: «In kürzester Zeit gelang es Frau Watten, eine effiziente Zusammenarbeit in ihrem Unterrichtsteam aufzubauen. Einerseits in der Rolle als Klassenlehrerin und andererseits in der Aufgabe als Schulische Heilpädagogin.» Fachlich sei Watten auf dem neuesten Stand. Sie bilde sich stetig weiter und setze ihr Wissen gewinnbringend zugunsten der Schule und der Schülerinnen und Schüler ein. Und: «Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit.»
Doch dazu wird es vorerst nicht kommen, nicht in dieser Konstellation. Wattens Zulassung als Heilpädagogin ist abgelaufen.
Das Volksschulamt und die Bildungsdirektion sind nicht bereit, ihre Zeit als Heilpädagogin als Berufserfahrung zu berücksichtigen. Die befristete Bewilligung sei nicht dazu da, diese Erfahrungen überhaupt erst zu erwerben, um sie dann zu einem späteren Zeitpunkt des Zulassungsverfahrens geltend zu machen. Das sei nicht im Sinne der Verordnung, lässt die Bildungsdirektion die Lehrerin wissen.
Mit anderen Worten: Einerseits wurde Watten von Amtes wegen für geeignet befunden, mehrere Jahre als Heilpädagogin tätig zu sein. Die Schulen suchen schliesslich händeringend nach Personal. Andererseits tun dasselbe Amt und die Bildungsdirektion so, als habe die Lehrerin gar nie als Heilpädagogin gearbeitet, wenn es darum geht, ihren Antrag auf definitive Zulassung zu prüfen.
Watten kann da nur den Kopf schütteln. Sie fühlt sich nicht ernst genommen. «Es ist eine Frechheit, wie die Behörden mit erfahrenen Lehrpersonen umspringen, die sich entwickeln und als Heilpädagoginnen mitwirken wollen im integrativen Unterricht!», sagt sie.
«Wir brauchen gut ausgebildete Leute»
Die Lehrerin ist nicht die Einzige, die mit dieser Zwischenposition zu kämpfen hat. Viele Heilpädagogen hätten aufgegeben, nachdem ihre Übergangsfrist abgelaufen sei, sagt Watten. Das höre sie immer wieder.
Wie viele Lehrerinnen ein Gesuch eingereicht haben, um wie Watten als Heilpädagoginnen anerkannt zu werden, und wie viele damit Erfolg hatten, konnte die Regierung bei der Anfrage im Kantonsrat nicht beantworten. Das Volksschulamt führe dazu keine Statistik, hiess es damals. Und: Man wolle nicht, dass die beiden Berufe sich gegenseitig konkurrenzierten. Weitere Möglichkeiten zu schaffen für Lehrer, die Heilpädagogen werden wollen, hält die Exekutive daher nicht für zielführend.
Die SP-Kantonsrätin Patricia Bernet hat die Anfrage im Parlament mitunterzeichnet. Sie kann zwar nachvollziehen, dass das Volksschulamt immer wieder auf das Sonderpädagogikstudium an der HfH verweise. Die Ustermer Primarschulpräsidentin sagt: «Wir brauchen gut ausgebildete Leute – für alle Aufgaben in der Volksschule.» Aber es gebe auch andere Wege. Und man müsse aufpassen, dass man motivierte (Heil-)Pädagogen nicht vergraule, egal in welchem Beruf im Schulbetrieb.
Raffaela Fehr, Kantonsrätin der FDP und Präsidentin der Aufsichtskommission Bildung und Gesundheit, findet ebenfalls, dass Heilpädagogen gut gerüstet sein müssen für ihren Job. Aber das lasse sich nicht allein an Diplomen, Zertifikaten und ECTS-Punkten festmachen. Fehr wünscht sich mehr Flexibilität im Bildungswesen: «Es muss möglich sein, Anträge von Personen, die als Heilpädagogen zugelassen werden wollen, von Fall zu Fall genau zu prüfen.»
Zu den Fragen der NZZ wollten Volksschulamt und Bildungsdirektion keine Stellung nehmen. Es handle sich um ein laufendes Verfahren. Watten will nicht aufgeben. Sie hat ihren Fall ans Zürcher Verwaltungsgericht weitergezogen.