Die Kinderschutzorganisation Unicef hat die erste globale Schätzung zu dem Thema vorgelegt. Mehr als 370 Millionen Mädchen und Frauen sind laut dieser von sexueller Gewalt betroffen. Doch auch für Buben sind die Zahlen alarmierend.
Eine 15-jährige Viehhirtin aus Äthiopien wird vergewaltigt. Aus Angst und Scham erzählt sie niemandem davon. Doch sie wird schwanger, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, gilt als schlechter Mensch. Dem Mädchen wird deshalb die Schuld am Tod der Kühe gegeben, die wegen der Dürre verendet sind.
Die Kinderschutzorganisation Unicef schildert den Fall aus Äthiopien in ihrem Bericht zu sexuellem Missbrauch an Mädchen weltweit. Unicef hat ihn anlässlich des Weltmädchentags am 11. Oktober veröffentlicht.
Es ist die erste globale Schätzung zu dem Thema. Über 370 Millionen Mädchen und Frauen weltweit haben sexualisierte Gewalt erlebt, bevor sie 18 wurden. Eine von acht ist betroffen.
Die Zahlen sind noch höher, wenn man Formen von «berührungslosem» (non-contact) Missbrauch dazunimmt. Dazu gehören verbale Belästigung, Anstarren und Missbrauch im Internet. Kinder werden online missbraucht, wenn ihnen pornografische Inhalte gezeigt oder sie zu sexuellen Handlungen aufgefordert werden. Bezieht man diese Fälle mit ein, ist sogar jedes fünfte Mädchen betroffen. Das sind mehr als 650 Millionen Mädchen und Frauen. Die meisten Mädchen erfahren sexuelle Gewalt in der Jugend, im Alter zwischen 14 und 17 Jahren steigen die Zahlen drastisch an.
Unicef nennt das Ausmass dieser Menschenrechtsverletzungen «überwältigend».
Alle Kontinente und Kulturen sind betroffen
Die Datenerhebung gestaltet sich schwierig, unter anderem aufgrund der Stigmatisierung, die dem Thema anhaftet. Daher geht die Organisation davon aus, dass die Dunkelziffer noch höher liegt.
Für die Studie griff Unicef auf national repräsentative Erhebungen zurück, die zwischen 2010 und 2022 in 120 Ländern und Gebieten durchgeführt wurden. Alle regionalen Schätzungen umfassen Daten, die mehr als 70 Prozent der erwachsenen weiblichen Bevölkerung der jeweiligen Region umfassen. Nur in Nordafrika und Westasien liege der Erfassungsgrad unter 50 Prozent. Unicef weist darauf hin, dass sich die Zahlen zwischen den Regionen auch nicht unbedingt vergleichen liessen, da die Qualität der Daten unterschiedlich sei.
Weltweit sind Kinder auf allen Kontinenten, in allen kulturellen Milieus und in allen sozialen Schichten von sexueller Gewalt betroffen. Besonders hoch sind die Schätzungen in Regionen, in denen Krieg oder andere Konflikte herrschen, die Institutionen schwach sind oder viele Flüchtlinge leben. Dort haben Mädchen und Frauen sogar ein Risiko von 1:4, Opfer sexueller Gewalt zu werden.
In Kriegsregionen wird sexuelle Gewalt gezielt als Waffe eingesetzt. Anfang Oktober hatte die NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF) gemeldet, dass im Bürgerkrieg in Ostkongo die Zahlen der Fälle sexueller Gewalt massiv ansteigen. 2023 wurden 25 000 Opfer durch MSF behandelt, das waren so viele wie nie zuvor.
Die höchste Anzahl missbrauchter und vergewaltigter Mädchen weist laut Unicef die Region Subsahara auf, wo 79 Millionen Frauen (das sind 22 Prozent der Frauen in der Region) betroffen sind. In Ost- und Südostasien sind 75 Millionen Frauen betroffen (8 Prozent). In Ozeanien war die Zahl der Betroffenen mit 6 Millionen prozentual am höchsten, nämlich 34 Prozent.
Armut ist ein weiterer Faktor, der das Risiko für sexuellen Missbrauch erhöht. Unicef schildert das Beispiel eines elfjährigen pakistanischen Knaben, der im Alter von acht Jahren vergewaltigt wurde. Nach der Vergewaltigung gab der Täter ihm Geld. Das Kind stammt aus prekären Verhältnissen, eine Schule besucht es nicht. Heute lebt der Junge mit seiner Mutter bei einem Mann, der das Kind gegen Geld sexuell ausbeuten lässt.
Die Zahlen zu sexueller Gewalt an Knaben sind schlechter dokumentiert als diejenigen für Mädchen. Nur einer von sechs Staaten weltweit erhebt systematisch nationale Daten zu Missbrauch von Knaben. Unicef schätzt, dass weltweit zwischen 240 und 310 Millionen Jungen und Männer – das ist jeder elfte – im Kindes- und Jugendalter sexuelle Gewalterfahrungen gemacht hat. Zählt man hier «berührungslose» Formen hinzu, steigen die Zahlen auf 410 bis 530 Millionen an.
Geschlechtskrankheiten und psychische Traumata
Egal welchen Geschlechts: Die Auswirkungen für die Kinder sind dramatisch und hinterlassen tiefe Traumata. Die Betroffenen haben ein höheres Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten, Drogenmissbrauch und psychische Probleme. Dies verstärkt sich laut Unicef, wenn Kinder ihre Erfahrungen mit Verzögerung teilen oder den Missbrauch ganz verschweigen. Um das ganze Ausmass des Problems zu erfassen, müsse verstärkt in die Datenerhebung investiert werden, da es nach wie vor grosse Lücken gebe.
Um Kinder zu schützen, müssten soziale und kulturelle Normen verändert werden, schreibt Unicef. Auch brauche es strengere Gesetze, um sexuelle Gewalt an Kindern zu ahnden. Jedes betroffene Kind müsse Zugang zu Institutionen erhalten, die medizinische, soziale und juristische Hilfe böten. Die Unicef-Exekutivdirektorin Catherine Russel sagt: «Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein Schandfleck auf unserem moralischen Gewissen.»