Die Zeiten, da China der Welt ein freundliches Gesicht zeigte und es Massen von Reisenden ins Reich der Mitte zog, sind lange vorbei. Touristen machen einen Bogen um das Land. Dabei spielt das Corona-Trauma eine Rolle, schuld sind aber auch Willkür und Überheblichkeit.
Weil die Corona-Pandemie den Reiseverkehr nach China von 2020 bis Anfang 2023 lahmgelegt hat, hofft Peking sehnsüchtig auf eine schnelle und nachhaltige Erholung. Diese aber lässt bis heute auf sich warten. Zwar berichten Chinas amtliche Statistiker, verglichen mit dem Vorjahr seien 2024 80 Prozent mehr Ausländer nach China eingereist. Sie verschweigen allerdings, dass die Zahlen bis Ende 2023 im Vergleich zu 2019 nur eine Erholung von maximal 60 Prozent erreicht haben. Im Vergleich mit Chinas Nachbarn wird das Bild etwas klarer. Südkorea registriert 2024, verglichen mit 2019, mit einer Zunahme von über 130 Prozent einen Reiseboom, Taiwan verzeichnet gar einen Anstieg von 139 Prozent, und auch Vietnam überstrahlt China mit 98 Prozent.
Dabei hat es sich Peking einiges kosten lassen, Touristen aus dem Ausland anzulocken, selbst ein Stück staatlicher Souveränität. Anfang Dezember 2023 wurde sechs europäischen Staaten einseitig die Visafreiheit gewährt, die dann auf Dutzende von weiteren Nationen ausgeweitet wurde. Seit Mitte November 2024 geniessen Touristen aus 38 Staaten für dreissig Tage eine «freie China-Reise». Auch andere subtile Erleichterungen werden gewährt: So etwa gilt die Vorschrift nicht mehr, wonach landesweite bargeldlose Zahlungen per Smartphone nur über eine festlandchinesische Handynummer erlaubt sind. Bis vor kurzem hätte solch eine Erleichterung angeblich die Staatssicherheit gefährdet – wegen des Abflusses von Daten ins «feindliche» Ausland oder digitaler Spionage.
Zur «Befragung» eingeladen
Hier zeigt sich der Pferdefuss, der Grund, warum seit 2019 westliche Touristen einen grossen Bogen um China machen und warum sie noch immer zögern, zurückzukehren. Das Anti-Spionage-Gesetz, verschärft im Juli 2023, macht es für chinesische Bürger zur Pflicht, Ausländer hinsichtlich verdächtigen Verhaltens zu überwachen und, wenn nötig, anzuzeigen.
Besonders riskant ist diese Regel für im Ausland wohnende Chinesen. Etliche aus Japan kommende Reisende dieser Art fanden sich nach der freien Einreise bald schon im Gefängnis wieder, solche aus Kanada und Australien folgten. In China dürfen Sicherheitsbeamte in Zivil jeden beliebigen Touristen jederzeit an jedem beliebigen Ort befragen – «Einladung zum Teetrinken» heisst das im chinesischen Jargon. Dabei geht es meist nur darum, die Besucher spüren zu lassen, dass sie sich auf dem Radar wachsamer chinesischer Augen und Ohren bewegen. Frei und entspannt fühlen sich unter solchen Umständen nur wenige Ausländer.
Auch die digitale Erleichterung spricht Bände: Zahlungen auf dem Smartphone, die in China per App erfolgen, hinterlassen zuhanden der Behörden präzise Spuren wie Standort- und Bankdaten. Künstliche Intelligenz macht heute eine lückenlose Überwachung kinderleicht. Wenn man will, kann man wissen, wann und wo, zu welcher Tageszeit, auf dem wievielten Stuhl von links oder rechts an der Hinterwand eines Restaurants die befragte Person mit wem ein Gespräch geführt hat. Bei der Befragung wäre dann nur noch beiläufig hinzuzufügen: «Darf ich erfahren, worum es bei der Unterhaltung ging?» Derartige Verhöre sind bis jetzt noch rar. Dennoch geht die – berechtigte – Angst um: Wer weiss, wer als Nächster drankommt?
Zweifellos lastet zudem die Erinnerung an die brachialen und menschenverachtenden Massnahmen, mit welchen Chinas Behörden der Corona-Seuche begegneten, auf der Bereitschaft westlicher Touristen, sich im Land der Mitte einem sorglosen Reisevergnügen hinzugeben. Regierungsbefehle wurden als der Weisheit letzter Schluss verkauft und paramilitärische Quarantänemassnahmen angeordnet, ohne dass die Versorgung der in ihren Siedlungen wochenlang eingesperrten Leute mit Lebensnotwendigem gesichert gewesen wäre. Derweil pries die Propaganda das eigene System in den höchsten Tönen – es sei zu einer Effektivität fähig, die den Staaten im Westen abgehe.
Beim Lockdown der 25-Millionen-Megacity Schanghai wurden über Nacht alle in ihren Wohnungen festgesetzt, einschliesslich Ausländern. Fünf Wochen lang dauerte das Ausgangsverbot, das viele traumatisiert zurückliess. Erst Massen-Strassenproteste liessen die Regierung einen Rückzieher machen und brachten eine massive Lockerung. Als Lehre daraus kann gezogen werden: Wenn es dumm läuft, kann einen selbst als Westler auf der nächsten Reise in China die geballte Staatswillkür treffen.
So hip wie einst ist China längst nicht mehr, die Boomjahre sind vorbei, und für jeden sichtbar lastet die Wirtschaftskrise nach dem Kollaps des aufgeblähten Immobiliensektors auf dem Land. Prachtstrassen, in denen sich einst die Menschen drängten, sind nur noch spärlich frequentiert. Halb leer stehen die Konsumpaläste, in denen es vor wenigen Jahren von ausgabefreudigen Einheimischen und zahlungskräftigen Touristen aus dem Westen nur so wimmelte.
In Peking und Schanghai vermelden nur noch sündhaft teure Restaurants gute Umsätze. Gaststätten für kleinere Geldbeutel darben oder haben bereits zugemacht. Dafür floriert das Geschäft mit Street-Food. Allgegenwärtig sind Mopedfahrer, die online bestelltes Essen frei Haus liefern, die «Kleinbrüder der Schnelllieferdienste» («kuaidi xiaoge»). Westlichen Touristen indes bleiben diese Wege verschlossen, weil sie nicht wissen können, wer was wie schnell und zuverlässig zu welchem Preis für welchen Geschmack liefert, von der Hygiene und Sicherheit der Lebensmittel ganz zu schweigen.
Schwelgen in Selbstmitleid
Dass Gäste aus dem Ausland nach wie vor fernbleiben, dafür haben Chinas Fachbehörden stets eine schlagende Erklärung parat: die negative Berichterstattung im Westen. Dabei ist es offenkundig, dass zu den negativen Gefühlen wesentlich mehr die chinesischen Social-Media-Plattformen beitragen. Hämische Schadenfreude macht sich jeweils breit, wenn beim Systemfeind in grossem Stil etwas schiefläuft. So, als Anfang 2025 im japanischen Miyazaki die Erde mit 6,9 Punkten auf der Richter-Skala bebte; oder als die vom Wind angefachten Grossfeuer in Los Angeles ganze Stadtteile abbrannten.
Natürlich ergreift der Chinese für die Hamas und gegen Israel Partei. Und auch bei Putins verbrecherischem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist klar, wo die Sympathien liegen. Die Schadenfreude ist grundiert mit der Botschaft: Die Welt ist aus den Fugen – ausser in China. Alle sind selber schuld, und recht geschieht es insbesondere jenen, die dem autokratischen Regime in Peking skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Was nicht heisst, dass sie als Gäste nicht willkommen wären, denn im wirtschaftlich gebeutelten China werden harte Devisen dringend gebraucht.
Neu ist eine solche Doppelmoral nicht, neu ist der Versuch, durch die aggressive Wendung gegen aussen die schwere innere Krise nicht ins Bewusstsein der Leute gelangen zu lassen. Tabu sind die Themen Jugend- und Massenarbeitslosigkeit, der Crash an den Börsen in Schanghai und Shenzhen, die desolate Lage der Sozialversicherungen und die massive Verschuldung der öffentlichen Hand. Totgeschwiegen wird auch die Tatsache, dass mittlerweile sogar Staatsbediensteten der Lohn gekürzt wurde, vielerorts um bis zu 30 Prozent. Das Narrativ, dass China über den dekadenten und zerfallenden Westen triumphiere, deckt sich immer weniger mit der Erfahrung. Was bleibt, ist der Wille, sich selbst zu bemitleiden: Nicht allein uns geht es dreckig, anderen geht’s noch dreckiger.
Ein weiterer Faktor für das unvorteilhafte Bild Chinas ist, dass die chinesischen Social-Media-Plattformen sich internationalisiert haben. Tiktok, die von China her betriebene, bei der Jugend weltweit ungemein populäre Plattform für Kurzvideos, soll wegen Manipulation und Datentransfer aus Gründen der nationalen Sicherheit in den USA verboten werden, wenn sich kein amerikanischer Käufer findet. Präsident Trump hat Tiktok im letzten Moment einen Monat Aufschub gewährt.
Als sich Tiktok aus Protest vorzeitig selbst abschaltete, stürmten in wenigen Stunden Millionen von amerikanischen Kids den chinesischen Social-Media-Dienstleister Xiaohongshu («kleines rotes Buch»), um ihrem Unmut über den Verlust freien Lauf zu lassen. Dank Übersetzungssoftware konnten sie da «zufällig» erfahren, wie der gemeine chinesische Blogger jenseits des harmonischen Scheins über sie denkt: «Fahrt zur Hölle.»