Der Roman «Die vorletzte Frau» klingt wie eine Lebensbeichte über eine gescheiterte Liebe. Doch die deutsche Schriftstellerin Katja Oskamp verbindet mit der Selbstentblössung vor allem eine Demütigung des langjährigen Freundes.
Jeder hat ein Leben zu erzählen. Aber nicht jedes Leben ist gleichermassen interessant für die Öffentlichkeit. Wenn es dabei um Sex geht, ist schon einmal eine gute Voraussetzung erfüllt. Auch Liebe kann im Spiel sein und für Aufmerksamkeit sorgen, Krankheiten schaffen eine existenzielle Dringlichkeit und appellieren ans Mitgefühl. Ganz besonders hilfreich ist schliesslich der Celebrity-Faktor. Je berühmter die Beteiligten sind, desto langweiliger und dürftiger darf ein solches biografisches Süppchen sein. Nur Sex sollte auch dann nicht fehlen.
Die 1970 in Leipzig geborene Schriftstellerin Katja Oskamp erfüllt mit ihrem Roman «Die vorletzte Frau» auf geradezu ideale Weise alle diese Voraussetzungen: Es geht um Sex und seine mehr oder weniger konventionelle Anwendung zwischen Mann und Frau, und das Buch erzählt von verflossener, hell lodernder und dann wieder erlöschender Liebe. Auch an furchterregenden Krankheiten herrscht kein Mangel.
Und wenn auch Katja Oskamp nach drei literarischen Werken 2019 mit ihren Kolumnen als Fusspflegerin ein Bestseller geglückt ist («Marzahn, mon amour»), so gehört sie dennoch nicht zu den Persönlichkeiten der Gegenwart, auf deren Lebensgeschichte man sich begierig stürzt. Für die Berühmtheit sorgt in ihrem Fall weniger sie selbst als jener, der die männliche Hauptrolle spielt – oder zu spielen hat – in dieser Erzählung einer Amour fou, die vieles in einem gleichzeitig ist: Liebes- und Krankengeschichte, Softporno und Schlüsselroman, Selbstentblössung und Abrechnung.
Der Griff zwischen die Beine
Die Geschichte setzt mit einer ungewöhnlichen Liebeserklärung ein. Tosch, so heisst die männliche Hauptfigur in diesem Ehedrama ohne Trauschein, macht der 19 Jahre jüngeren Ich-Erzählerin ein Geständnis: «Bevor ich dich traf, war ich tot. Mein Schwanz war tot.» Da will sich die Ich-Erzählerin nicht lumpen lassen und setzt – sprachlich nicht sehr elegant, doch immerhin mit Stabreim – noch eins obendrauf: «Ich war toter als du, Tosch.» Der Dozent am Literaturinstitut in Leipzig und eine seiner Studentinnen feiern einen gemeinsamen Lazarus-Moment. Sie erleben die Auferstehung von den Toten.
Er hatte sich in ihren Hintern verguckt, das hatte seinen Schwanz auferweckt, wie er später gesteht. Sie äussert sich zu ihrem Erweckungserlebnis nicht so explizit, dafür ist sie zupackender nach ihrer ersten Begegnung: «Als wir die Kneipe verliessen, griff ich Tosch zwischen die Beine.»
Beide kommen sie aus unglücklichen Beziehungen, nun sollen sie aneinander genesen. Vorerst sieht die Erzählerin grosszügig über die Nachteile des grossen Altersunterschieds hinweg, hält aber dennoch gönnerhaft salopp fest: «Er war fünfzig; die Ersatzteilphase hatte begonnen.» Fürs Erste sind es nur die lästigen Hörgeräte, bald folgen schwerwiegendere Beeinträchtigungen: die Zähne, der Rücken, das Herz, die Prostata. Zuletzt ist der Mann ein halbes Wrack.
Griff die Erzählerin zum Auftakt dem Mann in den Schritt, so setzt sie sich später zwischen seine gespreizten Beine, um mit einer Spritze und brachialer Kraftanwendung seine Harnröhre wieder freizuschiessen, sooft diese sich, was häufig geschieht, verschliesst. Sie schildert diese Szenen fast ebenso genüsslich wie ihre erotischen Rollenspiele, wenn sie in Strapsen in einer Bar auf ihn wartet, bis er als humpelnder alter Mann mit Stock erscheint, ihr ein Halsband umlegt und sie an der Leine wegführt.
Will man das alles wissen, braucht man es zu lesen? Und wozu erzählt es einem Katja Oskamp? Mag sein, dass sie mit dem Buch den Mann exorzieren will, an den sie vorübergehend ihr Herz verloren hat. Aus ihrer früheren Verstrickung mit dem Vater ihrer Tochter hatte sie sich in jahrelanger Psychoanalyse befreit. Von Tosch, ihrem literarischen Lehrer und Übervater, hinter dem unschwer der Schriftsteller Thomas Hürlimann zu erkennen ist, befreit sie sich mit den Mitteln der Literatur: ein Roman als Vatermord.
Man könnte es einen Versuch zur Selbstermächtigung nennen: Die Erzählerin muss sich jenen vom Hals schaffen, den sie als ihren Lehrmeister betrachtet, der jedes Buch und jeden noch so kleinen Text begleitet und kommentiert hat. Nichts ging an die Öffentlichkeit, was er nicht zuvor geprüft hatte. Aus solcher Umklammerung und Gängelung mit der straffen Leine, in die sie sich aus freien Stücken und dankbar begeben hatte, muss man sich einmal befreien.
Pralinen, Blumen und dreckige Wäsche
Katja Oskamp bleibt sich auf diesem Weg der Emanzipation nichts schuldig. Sich selbst nicht, das durfte man erwarten, doch auch Thomas Hürlimann nicht. Allerdings findet sie für jede peinliche Selbstentblössung eine noch peinigendere Blossstellung für ihren Liebhaber. Als sie ihn zum Festakt für die Verleihung der Ehrendoktorwürde in Basel begleitet, muss sie seine Kleidung kontrollieren, bevor sie das Haus verlassen. Er will nicht wissen, ob der Kragen sitzt, sie soll prüfen, «ob man wirklich nichts von der Windelhose sah, die er unter dem Anzug trug».
Wenn man es darauf abgesehen hat, jemanden mit Demütigungen zu demontieren: Man könnte nichts Besseres ersinnen. Freilich hat Katja Oskamp nichts oder kaum etwas ersonnen. Sie wird aufgeschrieben haben, woran sie sich erinnert hat, bis in die Abgründe der doppelten Buchhaltung einer Patchworkfamilie. Die Grundschule ihrer Tochter habe Tosch in sechs Jahren zwei Mal betreten. Auch in der Musikschule machte er sich rar. «Ich hingegen fuhr mindestens hundertachtzig Mal dorthin, mit Paula und ihrer Geige, fünf Stationen mit der Strassenbahn.» Tosch wiederum, wenn er am Wochenende zu seiner Geliebten und ihrer Tochter stiess, «brachte Pralinen, Blumen und einen Koffer voll dreckiger Wäsche mit». So war das. Und wenn es so war: Was soll’s?
Katja Oskamp erliegt mit ihrem Buch dem Realismus-Missverständnis. Man kann die Wirklichkeit nicht erzählen, indem man sie nach dem Gedächtnis malt. Man muss sie neu erfinden, das Vergangene muss verwandelt werden in eine mit Sprache erschaffene Gegenwärtigkeit.
Wie so etwas geht, hätte Katja Oskamp nicht zuletzt bei Hürlimann selbst nachlesen können. In seinem Roman «Heimkehr» (2018) spielt sie eine wichtige Rolle. Kaum einer würde sie erkennen: Das Meer wirft sie dort an die sizilianische Küste und in die Arme des Erzählers wie Odysseus in jene von Nausikaa. «Halbschwimmer» hiess Oskamps Erzähldebüt von 2003 nach einem Schwimmabzeichen, das Schülern in der DDR verliehen wurde.
So werden Reales und Imaginäres übereinandergeblendet, auf dass sie sich gegenseitig erhellen. Erst so wird die Wirklichkeit zur Kenntlichkeit gebracht. Die platte Schilderung des Lebensstoffes täuscht Authentizität nur vor. Mit der Aufrechnerei wie im Haushaltsbuch hat Katja Oskamp weder die Geschichte einer Selbstermächtigung noch das Requiem einer Beziehung geschrieben, sie nimmt lediglich eine ebenso kleinkrämerische wie wichtigtuerische Abrechnung vor.
Hürlimanns souveräne Antwort
Es passt zuletzt in das Bild dieses desolaten Beziehungsdramas, dass infolge einer Indiskretion – sei es beim Verlag, sei es bei der Autorin selbst – ein Satz aus einer privaten Mail von Thomas Hürlimann in der Wochenzeitung «Die Zeit» veröffentlicht werden konnte. Hürlimann hatte in dieser Mail an Katja Oskamp und zuhanden des Verlags, der juristischen Ärger befürchtet hat, sein Einverständnis mit dem Buch signalisiert und bekräftigt, dass er keine Einwände gegen dessen Veröffentlichung habe.
Dieser Vertrauensbruch setzt die Indiskretion fort, die das Buch selber darstellt. Indessen hatte Thomas Hürlimann mit seiner souveränen Antwort auch gleich sein Selbstverständnis und seinen Standpunkt als Schriftsteller markiert: Er freue sich, schrieb er in seiner Mail, «dass ich mitspielen darf». Er betrachtet die Literatur als ein Ergebnis der Imaginationskraft, sie ist ihm keine verbissene Wirklichkeitsabschreiberei. Mag das Buch auch von ihm handeln, so ist es doch nicht er selber, der darin abgebildet wird.
Damit pariert er ganz nebenbei auch den infam anmutenden Romantitel «Die vorletzte Frau». Das entspreche einem Muster in ihrem Leben, erklärt die Ich-Erzählerin. Schon einmal folgte nach der Trennung von einem Geliebten auf sie eine weitere, die letzte Frau, ehe der Mann starb. Mit anderen Worten: Tosch steht in ihren Augen mit einem Bein im Grab. Auch diese Hybris der Erzählerin zerlegt Hürlimann im Handstreich: Es ist ein Spiel. Was er, nobel, wie er ist, nicht sagt, aber vielleicht denkt: Es ist ein schlechtes Spiel. Man kann getrost sagen: ein übles.
Katja Oskamp: Die vorletzte Frau. Roman. Ullstein-Verlag, Berlin 2024. 208 S., Fr. 33.90.