Lena Cassel redet meinungsstark, kompetent und farbig über Fussball. In Deutschland ist sie ein Medienstar. Jetzt hat die 30-Jährige ein lesenswertes Buch über ihren Weg vor die TV-Kameras geschrieben.
Es ist EM in Deutschland, die Schweiz spielt gerade gegen Schottland. Irgendwo in einem TV-Studio bei Hamburg schauen Didi Hamann, Marcel Reif und Lena Cassel den Match, bevor die Aufzeichnung der Talkrunde mit Markus Lanz beginnt. Wann endlich «der kleine dicke Xherdan Shaqiri treffen» werde, fragen «die beiden grauhaarigen Männer über fünfzig». Nach 26 Minuten trifft Shaqiri. Reif und Hamann haben die richtige Frage gestellt. «Experten eben», schreibt Cassel. Sie schreibt das, weil sie gerade das Gefühl hat, keine Expertin zu sein.
«Zu laut, zu bunt, zu viel»: So lautete vor ein paar Jahren der Befund nach einem Test vor der TV-Kamera. Das hat wehgetan: ein rosafarbenes Einhorn, das nicht zur grauen Elefantenherde passt. Jetzt, wo «laut, bunt, meinungsstark» längst Cassels Markenzeichen ist, kehrt das Gefühl beim Warten auf den «Primetime-Talk» zurück. Panikattacke.
Erst, als der CSU-Chef Markus Söder als vierter Gast zur Runde stösst, sich «primär mit sich selbst» unterhält und «über seine eigenen Witze» lacht, macht sich bei Cassel Erleichterung breit. «Der einzigartige Zauber des Markus Söder», schreibt sie.
Die deutsche Fussballjournalistin schildert die Situation gegen Ende ihres lesenswerten Buches «Aufstiegskampf». Die Szene ist so etwas wie der Fluchtpunkt der Suche einer jungen Frau nach einem Platz in den Sport-Medien: Sie ist zuoberst angekommen, aber doch nicht ganz zugehörig. Fussball-Expertise ist noch immer Männerdomäne. Damit sich niemand aufregt, ist in diesen Runden jeweils ein Platz für eine Frau reserviert. Diesen Platz hat sich Cassel erobert. Das fällt auf.
Blümchen malen auf dem Ascheplatz
Denn es fällt noch immer auf, wenn eine Frau in den Medien über Fussball redet, ein Spiel live kommentiert, Analysen liefert oder in Podcasts ihre Einschätzungen kundtut. So, wie es die 30-Jährige in der Champions-League-Show bei Amazon macht, beim Streamingdienst DAZN die Bundesliga präsentiert oder im täglichen Podcast «MML» die Fussball-Neuigkeiten bespricht. Cassel gilt als eine junge, frische Stimme in einem Gewerbe, das noch immer an chronischem Mangel an Frauen leidet. Oder umgekehrt: an notorischer Dominanz der immergleichen Männer-Meinungen.
Noch immer fehlt die Selbstverständlichkeit, dass es keine Rolle spielen dürfte, ob Männer oder Frauen über Fussball reden oder schreiben. In Deutschlands Medienhäusern arbeiten im Sport nur gerade rund 11 Prozent Frauen, in der Schweiz sind die Zahlen ähnlich. Und wenn es dann doch eine Frau ist, die in ein Mikrofon spricht oder vor einer Kamera steht, muss sie Herablassung und sexistische Sprüche gewärtigen. Noch immer.
Die Verhältnisse haben sich zwar leicht verschoben, seit 1973 Carmen Thomas als erste Frau die «Sportschau» im ZDF moderiert hat und nach dem berühmten Versprecher vom «FC Schalke 05» von der Presse plattgewalzt worden ist. Unterdessen herrscht bei der ZDF-«Sportschau» bei der Moderation seit längerem Geschlechterparität. Die Königsdisziplin Fussball aber ist Sache von Männern, die sich nichts wegnehmen lassen wollen. Dabei ist Fussball für alle da. Darauf besteht Cassel in ihrem Buch.
Eine der Stärken von «Aufstiegskampf» ist freilich, dass Cassel nicht den Weg wählt, missionarischen Furor vor sich herzutragen. Sie erzählt ihre Geschichte. Es ist eine andere Geschichte als beispielsweise diejenige von Thomas Hitzlsperger in «Mutproben», der auf der bayrischen Wiese neben dem elterlichen Bauernhof gegen die Bälle tritt, Meister wird und sich nach der Karriere als schwul outet. Es ist auch eine andere Geschichte als die romanhafte «Das Leben fing im Sommer an» des Weltmeisters Christoph Kramer, der sein Spiel als Rettungsanker für die Pubertät halluziniert.
Cassel erzählt aus dem Leben einer jungen Frau, die sich von der Leidenschaft für das Spiel aus dem Gummikäfig in den TV-Glamour kämpft. Und sie erzählt, wie Fussball, wie für viele Menschen, auch in schwierigen Zeiten ein treuer Begleiter sein kann.
Die kleine Lena malt auf dem Ascheplatz in Schladern fast so gerne Blümchen in den Sand, wie sie dem Ball nachrennt. Als ihr einmal ein Tor gelingt und sie vom Opa einen Euro-Schein in die Hand gedrückt bekommt, ist das ein Glücksmoment. Ein Glücksmoment in einer Kindheit, in der die alleinerziehende Mutter als Nachtkrankenschwester die beiden Töchter oft sich selber und langen TV-Nachmittagen überlässt. Es geht in diesen Verhältnissen darum, «über die Runden zu kommen», nicht «zu träumen». Lena träumt noch nicht, sie kickt, und das Mädchen, von dem die anderen sagen, es sei gar kein Mädchen, lernt andere Lektionen als die Jungs. Etwa die Lektion im Gummikäfig.
Wer verliert, kassiert Arschschiessen
Der Gummikäfig ist ein «testosterongeschwängertes Habitat mit zwei Toren», 20 Meter lang, 13 Meter breit. Hier gelten nicht die Regeln von Erwachsenen wie Trainern oder Lehrern, hier gelten die Gesetze von «Jungs in der präpubertären Phase, die immer und überall das Gefühl hatten, jemandem etwas beweisen zu müssen».
Es gilt vier gegen vier, der Hinterste hält, «wer verliert, kassiert beim Arschschiessen». Wichtigste Regel: keine Mädchen. Als ein Junge aus der Nachbarschaft Lena einmal mitnimmt, weiss sie das alles noch nicht. Ein Mädchen? Der Aufnahmetest lautet: zehn Mal abwechselnd den Ball jonglieren. Danach ist Lena drin im Gummikäfig.
Solche Gummikäfig-Situationen begegnen Cassel immer wieder, und natürlich schafft sie es nicht immer, reinzukommen. Als sie später zu Fortuna Köln wechseln will, verlangt ihr Dorfverein 500 Euro Ablöse, die der Drittliga-Verein aber nicht zahlen will. Die Studentin müsste in die eigene Tasche greifen, aber sie verdient ihr Auskommen im Supermarkt für 5 Euro 50 die Stunde, keine Chance.
Der Opa erfährt davon und drückt Lena umständlich und anrührend beschrieben zum zweiten Mal von der Rente abgezwacktes Geld für Fussball in die Hand. Bei Fortuna Köln lernt sie, wie die Männer vom Fussball leben, während die Frauen die Auswärtsfahrten selber organisieren und die Trainingsklamotten bezahlen müssen. Es gehe nicht um «equal pay», schreibt Cassel, sondern um «equal play»: um gleiche Rahmenbedingungen.
Das ist natürlich nichts Neues. Aber Cassel schafft es, dass eine solche Forderung nicht hohles Ritual bleibt, wie es die Aktionstage «Girls Kick» oder «Für Vielfalt und Toleranz» sind. Cassels Schilderungen füllen solche Themen mit gelebten Erfahrungen. Dann, wenn es um die Aufnahmeprüfung als Praktikantin im TV-Archiv geht. Oder darum, was beim ersten Liebeskummer passiert, bei einer depressive Erschöpfung, oder darum, was geschieht, wenn sich ein Mädchen in die Lieblingslehrerin verliebt und in der Pubertät merkt, dass es auf Frauen steht.
So entsteht ein buntes Bild, in dem sich nicht nur junge Frauen wiedererkennen können, sondern das vielleicht auch alte, graue Männer auf die Idee bringen kann, dass es auf TV-Sofas wie bei Markus Lanz noch Platz gibt neben Cassel. Von einer Panikattacke war in der Sendung übrigens nichts zu sehen. Lena Cassel absolvierte den Talk professionell, meinungsstark und sachkundig.
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