Die amerikanische Skirennfahrerin erreicht im Slalom von Sestriere eine historische Marke und setzt damit neue Massstäbe. Doch Mikaela Shiffrin ist weit mehr als nur eine Sportlerin. Ein Protokoll vieler Begegnungen neben der Piste.
100 Siege hat Mikaela Shiffrin im Ski-Weltcup herausgefahren, nun, da sie am Sonntag den Slalom in Sestriere gewonnen hat. Die Marke von 86 Erfolgen des Schweden Ingemar Stenmark wirkt da fast schon normal, und dabei hatte sie 34 Jahre Bestand. Shiffrin ist die beste Skirennfahrerin, die je über die Eishänge des Weltcups raste, doch darum soll es in diesem Text nicht gehen. Ich hatte das Privileg, über zwölf Jahre hinweg in ungezählten Begegnungen zu erleben, dass sich die Amerikanerin als Mensch und Persönlichkeit genauso von den anderen abhebt wie als überragende Sportlerin. Das macht sie einzigartig.
Wir sind Ende November 2012 in Beaver Creek, Beat Feuz liegt gerade mit kaputtem Knie im Spital, die Schweizer Skikrise nimmt ihren Anfang. Da tut es gut, von einer Nudelfirma zu einem Dinner geladen zu werden. Die Gastgeberin ist Mikaela Shiffrin, die unten im Tal lebt, damals 17-jährig und mit einem einzigen Podestplatz im Palmarès. Sie steht im Abendkleid am Eingang zum Festsaal, flankiert von ihrem Bruder Taylor im Smoking, reicht jedem Gast die Hand, «nice to meet you».
Vor dem Hauptgang stellt sich Shiffrin in die Mitte des Saals und redet über sich, ihre Erfahrungen, ihre Ziele. Ich bin verblüfft. Da steht ein Teenager, an den Tischen sitzen lauter ältere Herren, Journalisten mit Hunderten Weltcup-Rennen auf dem Buckel, und dieser Teenager spricht völlig unbeeindruckt, ohne zu zögern oder zu stocken. Shiffrin ist in dieser Rolle, wie sie damals auch schon auf der Piste ist: ihrem Alter weit voraus.
Drei Wochen später siegt sie erstmals im Weltcup, im Februar 2013 wird Shiffrin Weltmeisterin, ein Jahr später auch Olympiasiegerin. Sie war die überragende Slalomfahrerin und begeisterte mit ihrer tänzerischen Leichtigkeit. Mit 18 Jahren hatte Shiffrin bereits neun Rennen im Weltcup, zwei Saisonwertungen im Slalom und die beiden wichtigsten globalen Titel gewonnen. Das ist mehr, als viele andere in einer ganzen Karriere schaffen. Man bezeichnete sie als Wunderkind, als Mozart des Skisports.
Wenn Shiffrin ein perfekter Lauf gelingt, hat sie das Gefühl, sie tanze
Das war ein Thema, als wir uns im Oktober 2013 erstmals für ein Interview gegenübersassen. Sie plauderte wie ein Wasserfall, lachte bei einigen Fragen laut heraus und gab dabei so reflektiert und differenziert Auskunft, als hätte ich ihr den Fragenkatalog Tage vorher zugeschickt, damit sie sich hätte vorbereiten können.
Über die Jahre sollte sich zeigen, dass Shiffrin immer so ist. Selbst wenn sie wie an den Winterspielen 2022 nach lauter Enttäuschungen noch mit Tränen in den Augen in die Mikrofone spricht, hört sich das an, als habe sie am Vorabend jeden Punkt analysiert und ihre Gedanken dazu sauber ausformuliert.
Wir redeten 2014 über Mozart, den sie von klassischen Konzerten kannte, die sie mit ihrem Vater besucht hatte. Shiffrin schilderte, wie sie Kopfhörer aufsetzt, wenn sie einen Slalomkurs visualisiert, die Musik gebe dann den Rhythmus ihrer mentalen Fahrt vor. Und wenn ihr am Hang ein perfekter Lauf gelinge, fühle sich das tatsächlich an wie Tanzen. Aber nein: «Ich bin kein Wunderkind.» Was sie erreicht habe, sei das Produkt von viel Arbeit und Unterstützung.
Ein paar Jahre später sollte ich mit ihrer Mutter in Österreich auf einem Bänklein an der Sonne sitzen, über unsere Kinder und das Elternsein reden. Eileen Shiffrin erzählte, wie sie die natürliche Freude ihrer Kinder am Sport förderte. Der Sohn Taylor wollte Fussball spielen, schaffte aber den Sprung in die Schülermannschaft nicht, also kaufte sie kleine Tore und kickte in den Sommerferien stundenlang mit ihren Kindern.
Taylor fuhr auch Skirennen, die kleine Schwester eiferte ihm nach. Sie tat das mit so viel Hingabe, dass sie sogar bei Regen konzentriert Lauf um Lauf übers Eis fuhr. Die Mutter kam auf die Idee, der Tochter zur Schulung des Gleichgewichts ein Einrad zu kaufen, später gab sie ihr noch Jonglierbälle. Und so kurvte Mikaela Shiffrin auf dem Einrad jonglierend durchs Quartier. «Die Nachbarn müssen uns für total bekloppt gehalten haben», sagte Eileen.
Das Gespräch dreht sich um die Frage, warum herausragende Athletinnen und Athleten oft eng mit den Eltern zusammenarbeiten, etwa Marcel Hirscher, Lara Gut-Behrami und eben Mikaela Shiffrin, die damals auf den Reisen im Weltcup stets das Zimmer mit der Mutter teilte. Es gehe um eine tiefe Vertrautheit, sagte Eileen. «Glaubst du, Lara braucht ihren Vater? Pauli ist da, weil die beiden eine grossartige Beziehung haben. Dasselbe gilt für Marcel Hirscher und seinen Vater.»
Nach ihrem ersten WM-Sieg hatte die damals 17-jährige Mikaela Shiffrin an der Pressekonferenz gesagt: «Ich brauche meine Mom.» Der amerikanische Skiverband hatte das lange nicht eingesehen, die Familie musste sämtliche Reise- und Hotelkosten aus der eigenen Tasche bezahlen. Das soll insgesamt eine halbe Million Dollar gekostet haben.
Später wurde die Mutter als Teil des kleinen Shiffrin-Teams innerhalb des Verbandes akzeptiert. Mit ihrem scharfen Auge erkannte sie sofort die kleinsten Schwächen ihrer Tochter. Und sie spielte manchmal die Rolle der erbarmungslosen Kritikerin. Viele Trainer getrauten sich nicht, Fehler knallhart anzusprechen, sagt sie. «Ich kann das, denn unsere Beziehung hält das aus.»
Eileen Shiffrin war über Jahre Teil einer Erfolgsmaschinerie, die unaufhaltbar durch die Skiwelt zu donnern schien. Wie Mikaela schon in jenem Gespräch 2014 gesagt hatte, war deren Motor Arbeit, Arbeit, Arbeit. Ihr Vater Jeff sagte einmal, seine Tochter fahre nie einfach zum Spass, mit jedem einzelnen Schwung sei eine Aufgabe verbunden – selbst auf den paar Metern vom Lift zum Starthaus.
«Das ist Emma, sie hat Leukämie»
Doch die Athletin schottete sich nie in dieser Arbeitswelt ab, und sie begriff früh, dass der Sport zwar wichtig ist, es aber noch andere Dinge gibt im Leben. Wichtigere. Darüber sprachen wir 2015 in Méribel, Shiffrin hatte gerade zum dritten Mal in Folge die Disziplinenwertung im Slalom gewonnen. Eine Woche zuvor war sie in Åre Emma Lundell wieder begegnet, die sie 2012 bei ihrem Premierensieg kennengelernt hatte. Lundell war damals ein kleines Mädchen, das am Ende einer Autogrammstunde zu Shiffrin kam. Die Mutter sagte: «Das ist Emma, sie hat Leukämie.»
Da habe sie angefangen zu weinen, erzählte Shiffrin 2015. Sie sei müde gewesen und habe nur noch ins Bett gewollt. «Und die Kleine hat die ganze Zeit gewartet, nur um der Siegerin die Hand geben zu dürfen.» Im Januar 2015 waren auch zwei junge amerikanische Skifahrer in einer Lawine ums Leben gekommen, einer davon war mit Shiffrin zur Schule gegangen. All das habe ihr gezeigt, wie flüchtig das Glück sein könne.
2019 wurde Shiffrin in Åre zum vierten Mal Weltmeisterin im Slalom. An der Pressekonferenz holte sie Emma Lundell auf die Bühne. Kein Journalist habe sie danach gefragt, aber das sei ihr wichtig: «Emma, du bist mein Engel, meine Inspiration.» Die damals 17-jährige Lundell hatte den Krebs besiegt und war als Langläuferin selbst Leistungssportlerin geworden.
Ein Jahr später sollte auch Shiffrin vom Schicksal eingeholt werden. Ihr Vater stürzte vom Hausdach, als er dieses vom Schnee freischaufeln wollte. Die Athletin hatte soeben in Bansko ein Rennen gewonnen, als sie die Nachricht erreichte. Sie reiste mit ihrer Mutter nach Hause und legte sich zum Vater ins Spitalbett. Er starb in ihren Armen. Der Verlust hat sie tief getroffen, Shiffrin brauchte fast zwei Jahre, bis sie als Mensch und Sportlerin wieder Tritt gefasst hatte.
In einem Gespräch vor gut einem Jahr sprach sie über Verlust und Kummer, über das Trauma, unter dem sie litt. Und über die mentale Leere, die all das auslöste. 2022 ging sie zu einem klinischen Psychologen. Es sei ihr nicht in erster Linie darum gegangen, im Sport wieder voll leistungsfähig zu sein, sagte sie. «Wir alle müssen lernen, wann die Arbeit Priorität hat, aber auch, wann Leben und Liebe im Zentrum stehen sollen.» Shiffrin wollte mithilfe des Fachmanns ihr Gleichgewicht finden.
Im Winter danach gewann sie 14 Rennen und überbot den Rekord von Ingemar Stenmark. Sie schaffte das in Åre, in Stenmarks Heimat und am Ort, wo sie erstmals gewonnen, wo sie Emma Lundell kennengelernt hatte. Es ist faszinierend, wie das Schicksal in dieser ungewöhnlichen Karriere immer wieder Zeichen setzt. Åre wurde zu einer Art emotionalem Zentrum Shiffrins. Jetzt kehrt sie mit dem 100. Sieg im Rucksack dorthin zurückkehren. Das nächste Rennen, zu dem Shiffrin startet, wird in zwei Wochen in Åre ausgetragen.
Für den 100. Sieg war bereits Ender November in ihrer Heimat der rote Teppich ausgelegt: an der Ostküste der USA, wo sie ab dem achten Altersjahr gelebt und auf eisigen Hängen die Basis für all ihre Erfolge gelegt hatte. Ein Triumph hier hätte besondere Strahlkraft gehabt. Shiffrin führte nach dem ersten Durchgang des Riesenslaloms, doch im Finale stürzte sie und zog sich eine tiefe Stichwunde im Bauch zu.
Zwei Monate brauchte Shiffrin, bis sie auf die Rennpisten zurückkehren konnte. Sich mit dem eigenen Stock aufgespiesst zu haben, löste bei ihr ein Trauma aus, das sie im Riesenslalom bis heute verfolgt. Am Samstag verpasste Shiffrin in Sestriere die Qualifikation für den finalen Durchgang.
Shiffrin ist längst zu einer Marke geworden
Letztlich war die Verletzung von Killington vielleicht die entscheidende dramaturgische Wendung, die aus einem scheinbar mühelosen Siegesammeln einen existenziellen Kampf machte. Das dürfte Shiffrin gerade in der Heimat noch mehr Aufmerksamkeit bringen, als sie ohnehin schon geniesst. Sie sprach bereits in unserem ersten längeren Gespräch davon, dass sie sich zu einer Marke machen wolle. Deshalb verzichte sie im Sommer auch einmal auf die Ferien, wenn es dafür etwa ein Fotoshooting mit einem grossen Magazin gebe.
Die inzwischen 29-Jährige nutzt deshalb auch konsequent die sozialen Netzwerke. Sie postet Bilder aus dem Skizirkus, von ihrer Liebe zum norwegischen Skirennfahrer Aleksander Kilde, von glamourösen Auftritten oder von Polarlichtern in Levi.
Doch auch auf diesen Plattformen bleibt sie nicht bloss plakativ. Sie hat sich für die Verschärfung der Waffengesetze in den USA starkgemacht, und sie hat vor allem den Trauerprozess nach dem Tod des Vaters mit ihren Followern geteilt. Viele Menschen, die ebenfalls Schicksalsschläge erlitten hatten, bedankten sich dafür. Sie erzählten ihre eigene Geschichte und schrieben, sie fühlten sich dank der Athletin mit ihrer Trauer nicht mehr allein.
Das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben scheint Shiffrin unterdessen perfekt gefunden zu haben. Das zeigt auch die Art und Weise, wie sie ihre Verletzung überwand und den 100. Sieg einfuhr. Damit ist eine Schallmauer durchbrochen, die Athletin kann nun völlig ohne Erwartungsdruck in die Zukunft schauen. Wo wird der Zähler stehen, wenn sie dereinst aufhört? Bei 110? Bei 120? Es wird eine Marke für die Ewigkeit sein.