Die Zukunft des bilateralen Wegs ist unklar, die Verhandlungen gehen in die entscheidende Phase. Die EU wirft der Schweiz gern vor, Rosinen zu picken. Man kann es auch anders sehen.
Beobachter aus dem Ausland mögen den Kopf schütteln: Die Schweiz beteiligt sich freiwillig am Ausbau der deutschen Eisenbahn. Vergangene Woche hat das Verkehrsdepartement von SVP-Bundesrat Albert Rösti bekanntgegeben, der Bund investiere 50 Millionen Franken in die Hochrhein-Strecke jenseits der Landesgrenzen. Und dies trotz klammen Finanzen und hitzigen Spardebatten.
Die Grosszügigkeit kontrastiert mit dem negativen Bild, das wieder einmal herumgeboten wird: die Schweiz als Rosinenpickerin in Europa, unsolidarisch, egoistisch, auf ihren Vorteil bedacht. Es sind vor allem Exponenten der EU, die so argumentieren. Das Manöver ist durchsichtig. Die Verhandlungen über die bilateralen Abkommen stehen vor der entscheidenden Phase. Am Mittwoch will der Bundesrat eine Standortbestimmung vornehmen. Es ist nicht erstaunlich, dass die EU gerade jetzt mit der bewährten Rosinen-Rhetorik den Druck erhöht.
Doch man kann es auch anders sehen: die Schweiz als unabhängige, aber stabile und zuverlässige Partnerin, die durchaus ihren Beitrag leistet. Was macht das Land bereits heute für die EU? Eine (unvollständige) Übersicht:
Eisenbahn
Die Unterstützung der Deutschen Bahn mit Schweizer Steuergeld ist kein Einzelfall. Bei der Hochrheinbahn geht es um Ausbauten zwischen Basel Badischer Bahnhof und Erzingen im Klettgau, von denen auch Schweizer Städte und Grenzregionen profitieren. Bern stellte im Gegenzug Bedingungen: Auf der modernisierten Strecke sind das GA und das Halbtax gültig. Zudem können die SBB einen Teil des Angebots fahren.
Trotzdem ist es ungewöhnlich, dass die Schweiz in einem anderen Land die Bahninfrastruktur mitfinanziert. In Bern sieht man darin aber kein Problem. In der Herbstsession hat der Ständerat verlangt, dass der Bundesrat auch Frankreich Finanzhilfen in Aussicht stellen soll. Hier geht es um den Ausbau der Strecke (Basel–)Metz–Strassburg für den Güterverkehr.
Mehr noch: Die Schweiz soll darauf hinwirken, dass auch die veraltete Strecke Strassburg–Lauterbourg–Wörth elektrifiziert oder zumindest für den Güterverkehr ertüchtigt wird. Der Ständerat argumentierte mit der Verlagerungspolitik, bei der die Schweiz europaweit Vorreiterin ist. Sie hat die Basistunnels der Neat gebaut, von denen die europäischen Nachbarn ebenfalls profitieren.
Die Verlagerung funktioniert aber nur richtig, wenn auch die Zubringerstrecken im Ausland ausgebaut sind. Namentlich Deutschland ist im Verzug, weshalb die Linien über Frankreich als Ausweichrouten dienen sollen. In Italien investiert die Schweiz ebenfalls in den Ausbau von Zubringerstrecken für die Neat. Unter anderem hat sie 140 Millionen Franken für die Nebenstrecke über Luino bezahlt.
Auch beim Personenverkehr ist die grenzüberschreitende Unterstützung keine Premiere. Im Rahmen des Anschlusses an den europäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr hat die Schweiz mehrere Aus- und Neubauten in Deutschland und Frankreich mitfinanziert, die für Bern höhere Priorität hatten als für Paris oder Berlin.
Kohäsionsbeiträge
Die Schweiz leistet – offiziell freiwillig – Beiträge an Entwicklungsprojekte in wirtschaftlich schwächeren EU-Staaten wie Polen, Rumänien oder Kroatien. Das Engagement ist hierzulande unter dem Titel «Kohäsionsmilliarde» bekannt. Die ersten Zahlungen hat das Volk im Jahr 2006 gutgeheissen. Auslöser war die Osterweiterung der EU. Die «alten» EU-Staaten fanden – salopp formuliert –, wenn sie selbst höhere Kohäsionsbeiträge an die neuen Mitglieder leisten müssten, dann solle auch die Schweiz zahlen, die via Bilaterale sektoriell ebenfalls Zugang zum EU-Binnenmarkt hat.
Die Schweiz war einverstanden, beharrte aber auf Eigenständigkeit. Sie überweist das Geld nicht an die EU-Kommission, sondern direkt an die einzelnen Länder, mit denen sie dann auch die Projekte und Programme gemeinsam plant. Dies gilt noch heute. 2021 hat das Parlament einen zweiten Beitrag freigegeben: 1,3 Milliarden Franken für zehn Jahre. Der Bundesrat sieht darin «eine Investition in Sicherheit, Stabilität und Wohlstand».
Weniger vornehm ausgedrückt, handelt es sich um das Eintrittsticket der Schweiz für den EU-Binnenmarkt. Kritiker im Inland stellen die Berechtigung grundsätzlich infrage. Aus Sicht der EU hingegen kommt die Schweiz gemessen am Wert des Marktzugangs zu günstig weg. Brüssel verlangt, dass der Beitrag nicht mehr freiwillig und sporadisch erfolgt, sondern verbindlich und regelmässig – und selbstredend soll er auch höher ausfallen.
Oft zu hören ist der Vergleich mit Norwegen, das etwa dreimal so hohe Kohäsionsbeiträge leistet wie die Schweiz (rund 400 Millionen Euro im Jahr). Allerdings hat Norwegen als EWR-Staat im Gegensatz zur Schweiz vollen Zugang zum Binnenmarkt. Ein hartes Feilschen ist zu erwarten, die EU dürfte auf einer markanten Erhöhung beharren. Als Anhaltspunkt: Für Entwicklungshilfe gibt die Schweiz gesamthaft 3 Milliarden Franken im Jahr aus.
Grenzgänger
Knapp 400 000 Grenzgänger arbeiten zurzeit in der Schweiz. Sie tragen hier zur Wertschöpfung und zur Versorgung bei, dafür erhalten sie relativ hohe Löhne. Auch ihre Herkunftsländer haben einen Nutzen, da Grenzgänger den Grossteil ihrer Einkommen daheim versteuern. Hinzu kommen Sozialleistungen, zu denen sich die Schweiz verpflichtet hat.
Verlieren Grenzgänger die Stelle, erhalten sie die Leistungen der Arbeitslosenversicherung vom Wohnsitzstaat, nicht von der Schweiz. Ungeschoren kommt diese aber nicht davon: Sie muss jeweils die Entschädigungen der ersten drei bis fünf Monate zurückerstatten. Vergangenes Jahr kostete sie dies gut 20o Millionen Franken. Eine Reform, die beim Arbeitsort anknüpft und die Schweiz massiv belasten würde, ist in der EU seit Jahren blockiert.
Handel
Schon immer standen wirtschaftliche Interessen im Zentrum der Schweizer Europapolitik. Man will der EU nicht beitreten, aber einen möglichst guten Zugang zu ihrem grossen Binnenmarkt für die hiesigen Unternehmen sicherstellen. In den letzten Jahren hat der Schweizer Handel mit anderen Weltregionen anteilsmässig zugelegt, trotzdem haben auch die Warenexporte in die EU-Staaten auf hohem Niveau weiter zugenommen. Vergangenes Jahr erreichten sie einen Wert von 138 Milliarden Franken. Damit ging ziemlich genau die Hälfte aller Schweizer Exporte in die EU.
Allerdings kann die Schweiz argumentieren, dass sie für die EU wirtschaftlich noch wichtiger sei als umgekehrt: Seit Jahren schon importiert der Kleinstaat mehr Waren aus der EU als umgekehrt. Auch im vergangenen Jahr sind die Einfuhren aus der EU mit 158 Milliarden Franken grösser ausgefallen. Im absoluten Horrorszenario – bei einem kompletten Wegfall des Handels – würden somit Unternehmen aus EU-Ländern mehr verlieren als Schweizer Firmen.
Allzu hoch pokern kann die Schweiz trotzdem nicht. Dies zeigt ein Vergleich, der die Grössenverhältnisse berücksichtigt. Die Schweiz hat 9 Millionen Einwohner, die EU knapp 450 Millionen. Pro Kopf gerechnet, hat die Schweiz deutlich mehr zu verlieren. In der EU machen die Exporte in die Schweiz nur 350 Franken pro Einwohner aus, in der Schweiz hingegen 15 400 Franken.
Personenfreizügigkeit
Die Zuwanderung ist nicht nur in den Verhandlungen das schwierigste Thema, bei ihr klafft auch die Wahrnehmung am stärksten auseinander. Die Verhältnisse sind äusserst einseitig. Obwohl die Schweiz viel kleiner ist, nimmt sie deutlich mehr EU-Bürger auf als umgekehrt. Mit der Personenfreizügigkeit kann im Prinzip jeder Staatsangehörige aus der EU in die Schweiz kommen, der hier einen Arbeitsvertrag hat. Zurzeit leben hierzulande 1,5 Millionen EU-Bürger, umgekehrt sind es nur 460 000 Schweizer in der EU.
Weil mit der Freizügigkeit auch die Sozialversicherungen koordiniert wurden, haben Zuzüger aus der EU mit der Zeit Zugang zu Schweizer Sozialleistungen. Umlagefinanzierte Sozialwerke wie die AHV profitieren von der Zuwanderung. Hingegen beziehen EU-Bürger gesamthaft mehr Geld aus der Arbeitslosenversicherung, als sie einzahlen. Sie erhalten auch häufiger Sozialhilfe als Schweizer.
Fazit
Ist die Schweiz nun Rosinenpickerin oder nicht? Wenn sie sich in einem bestimmten Bereich (nicht) beteiligt, macht sie das, weil es in ihrem Interesse ist. Wie die EU auch. Eine umfassende Analyse müsste zudem weitere Themen einbeziehen, vor allem Forschung und Bildung sowie Strom. Es fällt auf, dass in beiden Bereichen die Schweiz Bittstellerin ist: Sie verlangt vollen Zugang zum EU-Forschungsprogramm Horizon und will ein Stromabkommen abschliessen.
Es ist völlig unbestritten, dass der Einbezug der Schweiz mit ihren Hochschulen und ihrem Stromnetz auch für die EU von Nutzen wäre. Trotzdem will sie selbst bei diesen Themen erst dann einlenken, wenn die anderen Streitfragen geklärt sind.
Rosinenpicken sei nichts Negatives, sagte unlängst der EU-Botschafter in der Schweiz gegenüber SRF: «Wir sind alle Rosinenpicker, wenn wir es uns leisten können.» Nun will die EU offenbar mit aller Kraft dafür sorgen, dass es sich die Schweiz nicht mehr leisten kann oder will.