Mit dem Wahlerfolg vom Sonntag hat sich der Bürgermeister von Istanbul auch für die nationale Politik empfohlen. Wer ist der Mann, der dereinst zum Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdogan werden könnte?
Vor einigen Wochen erzählte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu in einer Diskussionssendung, wie er Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal Recep Tayyip Erdogan getroffen habe. Imamoglu führte damals als junger Mann ein Imbissrestaurant im Stadtteil Güngören auf der europäischen Seite der Bosporusmetropole.
Eines Tages sei Erdogan, der damalige Bürgermeister von Istanbul, vorbeigekommen, um in seinem Restaurant Köfte zu essen, die berühmten türkischen Hacktätschli. Er habe ihm die Mahlzeit spendiert, sagte Imamoglu. Erdogan werde diese Schuld für den Rest seines Lebens nicht begleichen können.
Indirektes Duell mit Erdogan
Die Anekdote wird dieser Tage gerne erzählt, besonders seit dem ebenso überwältigenden wie unerwarteten Sieg der Opposition bei den Lokalwahlen am Sonntag. Imamoglus Partei, die säkulare CHP, hat auf Landesebene ihr bestes Ergebnis seit 1977 eingefahren und viele Hochburgen von Erdogans religiös-konservativer AKP erobert. Imamoglu selber wurde in Istanbul mit einem Glanzresultat im Amt bestätigt.
Das Rennen um die grösste und in jeder Hinsicht wichtigste Metropole der Türkei galt als indirektes Duell mit Erdogan, der seine Heimatstadt für die AKP unbedingt zurückerobern wollte. Dass Imamoglu dabei als Sieger hervorging, macht den 53-jährigen Politiker zum Hoffnungsträger vieler Türkinnen und Türken, die sich auch auf nationaler Ebene einen Politikwechsel wünschen. Ist er der Mann, der dereinst der Herrschaft Erdogans und seiner AKP ein Ende setzen wird?
An seinen Ambitionen lässt der wiedergewählte Bürgermeister keine Zweifel. Bei seiner Siegesrede sagte er: «Der 31. März steht für die Wiederauferstehung der Demokratie in der Türkei. Menschen in autoritären Ländern blicken heute nach Istanbul.»
Ein Sozialdemokrat, der für Konservative und Kurden wählbar ist
Wie Erdogan verfügt Imamoglu über grosses rhetorisches – Kritiker würden sagen verführerisches – Talent. Im Tonfall sind die beiden Politiker mitunter kaum zu unterscheiden. Wie der Präsident hat der Istanbuler Bürgermeister Wurzeln in der bodenständigen Schwarzmeerregion. Bis zum 17. Lebensjahr lebte Imamoglu mit seiner Familie in der Nähe von Trabzon.
Trotz Studium, einem eigenen Baugeschäft und der Karriere als Politiker spricht er bis heute die Sprache des Volkes und tritt auch so auf. Er bezeichnet sich als Sozialdemokrat und vertritt die säkulare Politik seiner Partei. Im Unterschied zu den traditionellen Eliten der CHP lebt er seine Religiosität aber offen, auch im jüngsten Wahlkampf, dessen heisse Phase im Fastenmonat Ramadan stattfand.
Das macht den Vater dreier Kinder auch für konservative Kreise wählbar. In einer Stadt, die wegen ihrer Millionen von Zuwanderern als Spiegel des Landes gilt, ist das wichtig. Die Türkei hat eine strukturelle konservative Mehrheit. Wer bei ihr nicht ankommt, hat wenig Chancen.
Gleichzeitig versteht es Imamoglu, sich auch bei den kurdischen Wählern Respekt zu verschaffen. Vom Schulterschluss mit den Ultranationalisten, von denen sich der damalige CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu im vergangenen Mai Unterstützung im Präsidentschaftswahlkampf erhoffte, hielt sich Imamoglu fern.
Die Kurden haben es ihm gedankt. Obwohl die prokurdische DEM-Partei in Istanbul eine eigene Kandidatin aufgestellt hatte, gaben die meisten kurdischen Wähler der Stadt ihre Stimme dem Amtsinhaber. Imamoglu präsentiert sich erfolgreich als Integrationsfigur, der die tiefe Polarisierung des Landes überwinden will.
Störmanöver der Regierung
Ebenso wichtig wie die Rolle des Brückenbauers ist der konkrete Leistungsausweis als Bürgermeister. Das weiss niemand so gut wie Erdogan, der seine Karriere im Rathaus von Istanbul begann und sich dort für höhere Würden empfahl.
Recht unverhohlen gab der Präsident im jüngsten Wahlkampf zu, dass die Regierung Städte mit AKP-Mehrheit bevorzuge. Imamoglu kann ein Lied davon singen: Bei Bewilligungsverfahren für Bauarbeiten, bei der Kreditvergabe, bei Spendenaktionen während der Pandemie und selbst beim so dringend notwendigen Erdbebenschutz gab es laut Imamoglu Probleme mit der Regierung in Ankara.
Ihr Ziel erreichten diese Störmanöver aber nicht. Im Gegenteil verstehen es Imamoglu und sein mediengewandtes Team, diese als Beleg für eine allein auf Eigennutz bedachte Politik der Regierung darzustellen. Er arbeite für alle 16 Millionen Bürger seiner Stadt, nicht nur für das eigene Klientel, sagt der Bürgermeister immer wieder. Den Kampf gegen Korruption und Verschwendungssucht hatte er früh zu einer Priorität erklärt.
Hängiges Strafverfahren
Schon Erdogans erster Schlag gegen Imamoglu war nach hinten losgegangen. Als die Lokalwahlen in Istanbul vor fünf Jahren unter einem fadenscheinigen Vorwand für ungültig erklärt wurden, baute Imamoglu in der Wiederholungswahl seinen Vorsprung deutlich aus.
Auch deshalb dürfte sich der Präsident gut überlegen, ob er ein anhängiges Strafverfahren gegen Imamoglu tatsächlich zu Ende führt. Ein Gericht hat den Istanbuler Bürgermeister Ende 2022 in einem reichlich grotesken Fall wegen Beamtenbeleidigung zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Eine Bestätigung nach den Wahlen würde erst recht den Anschein politischer Einflussnahme erwecken. Erdogan sass zu Beginn seiner Karriere selber einst für einige Monate in Haft, was ihm politisch später behilflich war.
Konkurrenz aus Ankara
Die biografischen Parallelen zu Erdogan, die bei allen politischen Differenzen ins Auge stechen, machen Imamoglu zum medial attraktivsten Gegenspieler des Präsidenten. Darob geht mitunter vergessen, dass der Bürgermeister von Istanbul nicht der einzige Oppositionspolitiker mit nationalen Ambitionen ist.
Auch seinem Amtskollege in Ankara, Mansur Yavas, haben die jüngsten Wahlen starken Rückenwind verliehen. Yavas vertritt den nationalistischen Flügel der CHP. Das macht ihn für viele Kurden zum roten Tuch. Dafür erhält er rechts der Mitte, wo traditionell die Mehrheiten in der Türkei liegen, viel Zuspruch. Am Sonntag erhielt er mehr als 60 Prozent der Stimmen.
Bis zum Wahlerfolg vom Sonntag hat die CHP vor allem mit internen Streitigkeiten von sich reden gemacht. Mit den sehr unterschiedlichen Profilen ihrer aussichtsreichsten Politiker, Imamoglu und Yavas, stehen der grössten Oppositionspartei neue Richtungsentscheide bevor.







