Der grösste Kulturanlass im Tessin neigt sich dem Ende zu. Es war eine Hitze-Ausgabe – und der Funke sprang.
Vor gut fünfhundert Jahren fielen die Eidgenossen aus dem Norden ein: Sie eroberten Locarno, dessen Burg als zweitstärkste Festung des Herzogtums Mailand galt. Die Geschichte wiederholt sich Jahr für Jahr, wenn das Tessin von Deutschschweizern überflutet wird, nicht nur an Ostern. Im August hört man auf der Piazza Grande, nebst Italienisch und Englisch, mehr Züritüütsch als auf dem Sechseläutenplatz: Es ist Filmfestival, noch bis am Sonntag.
Definitiv angekommen zu sein scheint in der Filmfestung Locarno der künstlerische Direktor Giona Nazzaro, in Zürich geboren und in Dübendorf aufgewachsen. Er wirkt überzeugter als in seinen ersten vier Ausgaben, auch seine Auftritte vor grossem Publikum sind souveräner. Und spricht der sechzigjährige Cineast über sein Lieblingsthema, den Film, kann er so lange reden wie der frühere Präsident Marco Solari über fast alles. Dessen Nachfolgerin Maja Hofmann hingegen scheint der repräsentative Teil ihrer Funktion weiterhin nicht besonders zu liegen.
Der Funke springt
Insgesamt blickt man auf eine gelungene Hitze-Ausgabe 2025 zurück. Sie ist mehr als ein Warmlaufen für die 80. in zwei Jahren, die laut Hofmann dann so richtig zünden muss. Es war zu beobachten, wie selbst kleine Filme in Nebensektionen morgens über vierhundert Leute in einen Saal lockten. Der Funke zum Publikum sprang diesmal, auch auf der Piazza Grande, wo die Mischung mehr und mehr stimmte. Die Höhepunkte setzten dort allerdings vor allem drei Beiträge aus dem Hauptwettbewerb von Cannes, diesen Freitagabend hat Jafar Panahi seinen Siegerfilm gar selbst präsentiert: die aufwühlende Parabel «It Was Just an Accident». Seinem Regiekollegen Mohammad Rasoulof verleiht Locarno den erstmals vergebenen Friedenspreis. 2022 hatte das iranische Regime die beiden wegen «Propaganda gegen das System» gemeinsam ins Gefängnis gesteckt.
Die Kriege und Krisenherde der Welt waren präsent, in Worten, Manifestationen, auch in vielen Filmen. Nazzaro sieht das Festival als «Hafen für Filmemacher aus aller Welt», für «freien Ausdruck und künstlerische Kühnheit». Zwischen Kühnheit und Torheit ist ein schmaler Grat, es gab von beidem einiges zu sehen im Hauptwettbewerb. Künstlerisch sticht dort das kühne Werk «Desire Lines» des in Berlin lebenden Serben Dane Komljen heraus, ein assoziativer, rätselhafter Slow-Cinema-Bildrausch über den Stadt-Land-Graben, wenn man so will.
Bundesrätliches Bekenntnis
Als Stargast besonders umschwärmt war die 66-jährige Emma Thompson, die für eine völlig überbuchte Piazza sorgte – und für Schlagzeilen mit einer schon bekannten Anekdote: In den neunziger Jahren habe Donald Trump sie telefonisch zum Tête-à-Tête eingeladen. Sie lehnte natürlich ab. Dabei hätte die britische Schauspielerin, wie sie rückblickend sagte, den Lauf der Geschichte ändern können. Ob bei dem Gedanken kriminelle Energie im Spiel ist, bleibt ihr Geheimnis.
Dass Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ein Date mit Willem Dafoe hatte, ist eher unwahrscheinlich. Jedenfalls pries die Kulturministerin, bei einem Empfang auf dem Monte Verità in der Sommerhitze nach ihren cineastischen Höhepunkten befragt, seine Schönheit, ganz besonders seinen Rücken. Diesen, samt siebzigjährigem Po, hatte man am Abend zuvor auf der Piazza nackt zu Gesicht bekommen, im Film «The Birthday Party».
Bald wird das Städtchen am Lago Maggiore wieder dösen, fast schon in den Winterschlaf fallen. Die Horden aus dem Norden ziehen ab. Auch die Zürcher Anbieter, die vor dem Castello in der Rotonda, der Vergnügungs- und Verpflegungsort des Festivals, an ihrem Stand ausgerechnet Risotto anpreisen. Zumindest die probierte Version mit Safran war leider misslungen. Die Zürcher bleiben, beim Barte des Nazzaro, wohl doch lieber beim Geschnetzelten mit Rösti.