Kollegen glaubten, der Schriftsteller Jack Unterweger sei geläutert. Doch er tötete weiter.
Sein Ruhm sollte sich als flüchtig erweisen, aber fliehen konnte der Berühmte erst einmal nicht. Jack Unterweger sass wegen Mordes an einer Prostituierten in der Justizanstalt Stein, als ihn am 30. September 1983 eine illustre Delegation besuchte. Eigens angereiste Wiener Ministerialbeamte, Schriftsteller und Journalisten wollten hören, was das literarische Wunderkind zu bieten hatte. Und Unterweger legte los: Er las aus seinem Lyrikband «Tobendes Ich» und aus dem autobiografischen Roman «Fegefeuer oder Die Reise ins Zuchthaus». Poesie und Prosa über ein verpfuschtes Leben, denen das Publikum ergriffen lauschte.
Unterweger war als vaterloses Kind einer Kärntner Kellnerin beim trunksüchtigen und brutalen Grossvater aufgewachsen. Der weitere Weg war vorgezeichnet. Eine Erziehungsanstalt. Diebstahl, Betrügereien, Vergewaltigungen. Im Dezember 1974 dann der erste Mord. Margret Schäfer aus dem hessischen Dillenburg wird von Jack Unterweger brutal misshandelt und schliesslich in einem Waldstück umgebracht. Der Täter wird gefasst, das Urteil: lebenslänglich.
Was sich in den nächsten Jahren abspielt, ist ein Rührstück der Sozialromantik. An vorderster Front stehen Schriftsteller mit grossen Namen. Erich Fried, Ernst Jandl, Günter Grass, Elfriede Jelinek und einige hundert mehr haben eine Petition zur vorzeitigen Freilassung Jack Unterwegers unterzeichnet. Weil sie an das Gute im Menschen ganz generell und in diesem besonders glaubten.
1990 kommt der vermeintlich geläuterte und zum Autor avancierte Mörder tatsächlich frei. Der Mann, der bei Haftantritt kaum lesen und schreiben konnte, hat die schiefe Bahn verlassen und ist in der High Society der Kunst gelandet. Er ist der Star einer linksliberalen Literatenszene, wird hofiert und fährt wie ein Zuhälter im weissen Ford Mustang durch Wien. Bis wieder tote Prostituierte gefunden werden.
Nicht alle Menschen sind schuldig
Das Österreich der siebziger und achtziger Jahre funktioniert als politisches Paralleluniversum. Der Musil-Leser Bruno Kreisky ist Kanzler. Die Verbindungen zwischen Kunst und Politik sind eng, und es gibt mit Christian Broda einen Justizminister, der vom «gefängnislosen Staat» träumt.
Das Mantra von der universell möglichen Resozialisierung und der Glaube daran, dass nicht die Menschen schuldig sind, sondern die Umstände, schaffen einen blinden Fleck, in dem sich jemand wie Jack Unterweger verstecken kann. Nicht einmal das Gutachten des Gerichtspsychiaters wird wirklich ernst genommen. Der schätzt Unterweger als «gefühlsarmen, explosiven, aggressiven Psychopathen» ein. Rückfälle seien «mit Sicherheit zu erwarten».
Und die Rückfälle, sie kommen. England hat Jack the Ripper, Österreich Jack the Writer. Nach wenigen Monaten in Freiheit hat Jack Unterweger nicht nur ein Theaterstück am Burgtheater untergebracht und munter an seinem Werk weitergeschrieben, sondern, wie sich später herausstellen wird, auch eine Spur der Verbrechen durch Österreich gezogen. Nach immer ähnlichem Muster werden in Österreich und in der Tschechoslowakei Frauen ermordet. Meistens stranguliert der Täter sie mit ihrem eigenen Slip.
Die Realität dieser kruden Geschichte wird medial aufs Absurdeste überhöht. Weil der Gefängnisliterat die Szene der Prostituierten gut kennt, wird er vom Österreichischen Rundfunk ausgeschickt, Reportagen zu den Mordfällen machen. Zum ORF hat Jack Unterweger seit seinen Gefängniszeiten guten Kontakt. Seine Gedichte wurden im Radio vorgetragen. Sogar für die Kinder-Gute-Nacht-Sendung «Das Traummännlein kommt» hat der Frauenmörder Texte geliefert.
Das Verführerische an Jack Unterweger, der schon in seiner Zelle Verehrerpost von Burgschauspielerinnen, Unternehmersgattinnen, Nonnen und zuletzt auch von Grass, Fried und Co. bekommen hatte: Er war selbst wie Literatur. Die Geschichte von der schlimmen Kindheit hat er sich an entscheidenden Punkten selbst zusammengezimmert. Eine seiner Legenden handelt davon, wie er einmal Peter Handkes «Linkshändige Frau» Satz für Satz abgeschrieben hat und dann zur Einsicht kam: Das kann ich auch!
Freudig hat die berühmte Literaturzeitschrift «manuskripte» die Texte des ungeschliffenen Diamanten abgedruckt, der wohl nicht einmal echt war. Eine gewisse Sonja von Eisenstein soll dem Dichter mehr als nur unter die Arme gegriffen haben. Sie war selbst Literatin und dazu auch noch eine Art Trauma-Traum-Forscherin.
Einer von uns!
Die Geschichte von Jack Unterweger ist deshalb so speziell, weil sie tief in die Seelen einer intellektuell gehobenen Gesellschaft ragt. Ergreift die Feministin Elfriede Jelinek für einen Frauenmörder Partei, weil er Gedichtbücher wie «Tobendes Ich» und einen autobiografischen oder eher: autopornografischen Roman geschrieben hat? Ganz wohl scheint der Literaturnobelpreisträgerin heute damit auch nicht mehr zu sein.
Der Journalist Malte Herwig hat zu Unterweger gerade eine Art Roman geschrieben, der «Austrian Psycho» heisst und soeben erschienen ist. Was das Buch als Roman nicht kann, macht es mit Material zur Causa wett. Auch Elfriede Jelinek wird um eine Stellungnahme gebeten: «Ich habe es satt, in den Foren immer als Komplizin eines Frauenmörders und Psychopathen bezeichnet zu werden», sagt Jelinek. Und dass sie eigentlich schon immer daran gezweifelt habe, dass Jack Unterweger der tatsächliche Autor einer immerhin ziemlich grossen Menge von Romanen, Gedichtbänden und Stücken sei.
Die Frühwarnsysteme springen sehr unterschiedlich an. Heute würde man vielleicht dem Sprachgebrauch eines Menschen misstrauen, der Morde nicht als das bezeichnet, was sie sind. Unterweger nennt sie auf feige beschönigende Weise Verbrechen, die «den rein materiellen Wert übersteigen». Wäre der damalige österreichische Literaturbetrieb erst skeptisch geworden, wenn sich herausgestellt hätte, dass Unterweger gar nicht schreiben kann? Es galt die Formel: Er ist einer von uns! Die Faszination des Dämonischen war ein emotionaler Bonustrack.
Lange genug hat die moralische Gewaltenteilung funktioniert. Auf der einen Seite die Normalsterblichen, auf der anderen die Künstler. Die Künstler durften die biedere Trivialität des Lebens nicht nur transzendieren, sie sollten sogar. Dem Volk zur Unterhaltung und auch zur Mahnung. Für den Renaissance-Rabauken und Mörder Benvenuto Cellini macht sich Papst Paul III. stark. Gian Lorenzo Bernini versucht, seiner Geliebten das Gesicht zu zerschneiden. Nach diesem Kollateralschaden künstlerischer Energien rühmt ihn Papst Urban VIII. als «seltenen Menschen».
Noch zwei berühmte Mörder, denen alles verziehen wurde: der Maler Caravaggio und der Bildhauer Leone Leoni. Oscar Wilde begeistert sich für den Mörder und Schriftsteller Thomas Griffiths Wainwright: «Seine Verbrechen scheinen eine wichtige Wirkung auf seine Kunst gehabt zu haben. Sie fügten seinem Stil eine starke Individualität hinzu, eine Qualität, die seinem Frühwerk ohne Zweifel fehlt.» Später hatten die französischen Intellektuellen rund um Jean-Paul Sartre mit Jean Genet ihren Vorzeigeverbrecher. Der konnte allerdings wirklich schreiben.
Der Mörder wird zum Sujet für die Kunst
Früher war nicht alles gut, und vom diesbezüglichen Unterschied zur Gegenwart ist viel die Rede. Aus ihren dunklen exterritorialen Gebieten ist die Kunst ins Scheinwerferlicht eines global-menschlichen Selbstverbesserungswillens gerückt. Was sich auf den Sets der Filmproduktionen abspielt, wird im Fall von Verfehlungen nicht geheim bleiben. Ohnehin nicht geheim bleibt, was zwischen zwei Buchdeckeln steht.
Vorauseilende Selbstzensur und der Shitstorm sind zwei Phänomene der gleichen moralischen Wurzel: Der Künstler will und muss Vorbild sein. Petitionen für Gewaltverbrecher, die beschlossen haben, Gedichte zu schreiben, wird es heute nicht mehr geben. Die Zeiten, als die behauptete und unbedingte Wahrhaftigkeit von Kunst ein Lügengebäude à la Unterweger bemänteln konnte, sind vorbei.
Nicht ohne Grund ist Jack Unterweger ein Sujet für die Kunst selbst geblieben. John Malkovich hat ihn im Theaterstück «The Infernal Comedy – Confessions of a Serial Killer» gespielt. Es gibt den 2015 gedrehten biografischen Kinofilm «Jack – Poet, Liebhaber, Mörder» und jetzt auch etwas, das es so nur in Österreich geben kann. Ernst Geiger, der kriminalpolizeiliche Leiter der damaligen Sonderkommission zu Unterweger, hat mit seinem reichen Wissen einen Krimi geschrieben. Er heisst «Mordsmann».
Für den echten Mordsmann stand am Ende kein petitionseifriges Literatenvolk mehr bereit. Auf sechs Mordfälle in Europa folgten drei in Los Angeles. Um für eine Radioreportage zu recherchieren, hatte sich Jack Unterweger in den Rotlichtvierteln der Stadt herumgetrieben. Alle Spuren führten zu ihm. Nach einer Bonnie-und-Clyde-ähnlichen Flucht mit einer Wiener Schülerin wurde er in Miami festgenommen und am Landesgericht Graz angeklagt.
Vor den Geschworenen spielte Jack Unterweger zum allerletzten Mal den Showmaster. Er wurde am 29. Juni 1994 wegen neunfachen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In der Nacht darauf nahm er sich in seiner Zelle das Leben. Unterweger strangulierte sich mit dem gleichen Knoten, den er bei seinen Morden geknüpft hatte.
Dennoch wird Jack the Writer bis heute von manchen für unschuldig gehalten. Andere, vor allem Nicht-Linke, hielten die Aufregung um den angeblichen Künstler für Hysterie, sahen mit seinem Tod einen Kulturkampf beendet und fühlten sich zum Zynismus ermächtigt. «Sein Selbstmord war sein bester Mord», sagte der ÖVP-Parlamentsabgeordnete Michael Graff.
Malte Herwig: Austrian Psycho. Jack Unterweger. Molden-Verlag, Graz 2024. 128 S., Fr. 33.90.