Polizei und Staatsanwaltschaften klagen über eine massive Zunahme von Delinquenten aus Nordafrika. Wer sind die Täter, was ist ihr Plan, und weshalb werden die Sicherheitsbehörden mit ihnen nicht fertig?
Es ist kurz vor zehn Uhr morgens an einem heissen Augusttag 2022. Adil Kerras* beobachtet nahe bei den Messehallen in Kleinbasel, wie eine Frau ihren Kinderwagen über die Treppe ins Haus bringen will. Er eilt herbei und bietet seine Hilfe an.
Um Freundlichkeit allerdings geht es Kerras nicht. Blitzschnell schnappt er sich das Portemonnaie, das sich in der am Kinderwagen hängenden Handtasche befindet. Er drückt es unauffällig zwischen seinen Gürtel und den Hosenbund und verabschiedet sich. Noch bevor er das Haus verlässt, checkt er die Beute: etwa 200 Franken, Ausweise, Migros-Gutscheine und Coop-Marken. Die Marken lässt er im Treppenhaus liegen, mit dem Rest haut er ab.
So jedenfalls steht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt. Der ziemlich harmlose Diebstahl am helllichten Tag soll der Auftakt zu Kerras’ langer Serie von Vermögensdelikten in ganz Basel sein. Adil Kerras ist einer der Männer aus dem Maghreb, die mit Diebstählen und Einbrüchen im ganzen Land für viel Ärger und mancherorts für Beklemmung sorgen.
Sprunghaft ist die Zahl von durch nordafrikanische Asylbewerber und illegal Eingewanderte begangenen Delikten in den letzten Monaten angestiegen. Mehrere Sicherheitsdirektoren und Polizeikommandanten berichten seit Anfang Jahr von einer regelrechten Kriminalitätswelle.
Doch wer sind Kerras und die vielen anderen Kleinkriminellen? Woher kommen sie? Wie gehen sie vor, und was ist ihr Plan? Und weshalb wird die Polizei mit ihnen nicht fertig? Die NZZ hat sich im Kanton Basel-Stadt zahlreiche Strafbefehle und Anklageschriften beschafft, um ein Bild davon zu erhalten, was unter dem Stichwort Maghreb-Kriminalität gerade vor sich geht.
Sonnenbrille, Ladekabel, Medikamente
Zum Beispiel an einem milden Wintermorgen bei einer Migros-Filiale am Stadtrand. Abdelkarim Brahimi* streift durch die Parkplatzreihen vor dem Einkaufszentrum und sucht nach unverschlossenen Autos. Er wird rasch fündig, wenn auch nicht reich: Aus einem Wageninnern klaut er eine Sonnenbrille, ein Ladekabel, Medikamente und ein paar Franken Bargeld. Einen richtigen Plan scheint Brahimi nicht zu haben. Eher ein Prinzip: Gelegenheit macht Diebe.
Doch Brahimi wird erwischt. Er ist nicht einmal 20 Jahre alt, wie die Polizei feststellt. Geboren wird er 2005 in der marokkanischen Stadt Tanger. Irgendwann bricht er nach Europa auf und landet schliesslich in der Schweiz. Er stellt ein Asylgesuch, das noch unbehandelt ist, aber so gut wie sicher abgelehnt wird. Zu verlieren hat Brahimi nichts, und die Polizei ist schon gar keine Gefahr.
Brahimi muss eine Nacht in der Zelle verbringen, dann ist er wieder frei. Zu geringfügig ist das Delikt, und mehr als 24 Stunden darf in der Regel niemand einfach festgehalten werden. Würde man alle Diebstahlverdächtigen in Untersuchungshaft stecken, wären die Gefängnisse schon morgen überfüllt. Brahimi erhält schliesslich eine bedingte Freiheitsstrafe von 60 Tagen sowie eine Busse von 500 Franken. Doch zu holen gibt es bei ihm nichts: Er erhält nur Asyl-Sozialhilfe, die deutlich unter den normalen Ansätzen liegt.
Brahimi ist einer von über einem Dutzend Tätern aus dem Maghreb (es sind ausschliesslich Männer), die die Basler Staatsanwaltschaft in einem einzigen Monat per Strafbefehl verurteilt. Dabei zeigt sich ein Muster: Die Deliktsummen sind klein, um mehr als ein paar hundert Franken geht es meistens nicht. Viele Täter sind unter 30 Jahre alt. Sie sind alleine unterwegs, höchstens zu zweit. Ihre Delikte wirken stets ungeplant, fast aus dem Moment heraus verübt.
«Wenige straffällige Intensivtäter»
Die Täter stammen aus Algerien oder Marokko, wenige kommen aus Tunesien. Sie sind illegal hier oder als Asylsuchende. Manche wohnen in Basel, doch längst nicht alle. Mohammed Said* und Sid Driss* beispielsweise sind in der Kaserne Bure im Kanton Jura untergebracht. Erwischt wird das Duo eines Nachts in der Basler Klybeckstrasse, als sie sich an einem Fahrzeug zu schaffen machen. Beide haben mehrere Delikte hinter sich. Andere kommen über die nahe Grenze in die Stadt.
Sosehr Diebstähle von Tätern aus Nordafrika die Schlagzeilen der letzten Wochen prägen: Kriminell wird nur eine kleine Minderheit der Asylsuchenden. Man habe es mit «wenigen straffälligen Intensivtätern» zu tun, so umriss Thomas Würgler, der frühere Kommandant der Zürcher Kantonspolizei, das Phänomen kürzlich in einem Papier, über das der «Blick» zuerst berichtete. Am Werk sind Leute, die es gewohnt sind, sich mit Alltagsdelikten durchzukämpfen.
Im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) hat Würgler skizziert, wie der Kriminalität durch Asylsuchende besser begegnet werden kann. Auch der Basler Journalist und Autor Beat Stauffer betont, dass die Mehrheit der Asylsuchenden und Migranten aus dem Maghreb nicht straffällig werde. «Die meisten verhalten sich unauffällig», sagt Stauffer, der die Maghreb-Staaten seit mehr als 40 Jahren bereist. Doch diejenigen, die kriminell werden, bringen ihre Region gerade in Verruf.
Viele der Männer sind in diesen Ländern schon von klein auf mit Armut und Kleinkriminalität vertraut. Manche stünden in ihrer Heimat schon im jungen Alter vor einem Leben ohne Perspektive, erzählt Stauffer. Sie stammen oft aus ärmeren Gegenden im Hinterland oder aus den Banlieues der grossen Städte. Sie kommen aus desolaten, oft zerrütteten Verhältnissen und haben die obligatorische Schule frühzeitig verlassen oder ihre Ausbildung abgebrochen.
Es sind junge Männer ohne Arbeit und ohne Geld. Sie verlassen ihr Land nicht als Flüchtlinge, sondern auf der Suche nach einem besseren Leben. Und sie seien geprägt von der Erfahrung, dass der Staat nichts für sie tue, erklärt Stauffer. Manche rutschen noch vor ihrer Auswanderung in die Drogenabhängigkeit ab, konsumieren regelmässig Psychopharmaka und beginnen eine kriminelle Laufbahn. Diebstähle und andere kleine Delikte – für nicht wenige sei dies schon in der Heimat Alltag, sagt Stauffer.
Auch das Privatleben läuft aus dem Ruder
Ob es auch bei Adil Kerras so war, dem Dieb mit dem Kinderwagen-Trick in Kleinbasel, lässt sich nicht sagen. Doch vieles von dem, was Stauffer über Maghreb-Einwanderer erzählt, passt auf ihn. Der Algerier wird 1989 in Tunesien geboren, wo er seine Kindheit und seine Jugend verbringt. Eine Schule besucht Kerras nicht. Bis heute kann er weder lesen noch schreiben. Schliesslich verlässt er sein Land, überquert auf unbekanntem Weg das Mittelmeer und wird 2016 in der Schweiz erstmals registriert. Seine Mutter lebt weiterhin in einer kleinen Stadt im Norden von Algerien, von seinem Vater ist nichts bekannt.
2020 stellt Kerras in der Schweiz ein Asylgesuch, das umgehend abgelehnt wird. Trotz Wegweisungsverfügung bleibt er in der Schweiz und stürzt immer mehr ab: Er hat keinen festen Wohnsitz, ist drogenabhängig, bei miserabler Gesundheit und scheint sich bald für nichts mehr anderes zu interessieren als für die Beschaffung von Stoff. Auch das Privatleben läuft aus dem Ruder: Der Polizei erzählt er später, er habe ein Kind mit einer Frau, die in einem französischen Grenzort bei Basel wohne.
Irgendwann fasst Kerras den Entschluss, «bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach der Art eines Berufes Taschen-, Keller-, Laden- sowie Diebstähle aus Fahrzeugen zu begehen». So schreibt es die Staatsanwaltschaft, die ihm zahlreiche Diebstähle und weitere Delikte vorwirft. Kerras klaut innert eines Jahres diverse Portemonnaies, ein Fahrrad, mehrere Fotoapparate, Handys und Bargeld. Es beschimpft Beamte und bedroht Opfer.
In der Manor nimmt er Kleider mit und verpackt sie in Alufolie, damit es beim Verlassen des Ladens nicht piept. Er dringt in eine Hotellobby ein und räumt die Garderobe leer. Aus Autos entwendet er Smartphones, Ausweise und Kreditkarten. Damit kauft er sich Kaffee, Zigaretten, Marihuana, Kokain – und einmal eine kleine Chance auf das grosse Glück: Lottolose an einem Kiosk. Die Anklageschrift umfasst siebzehn Seiten und weit über zwei Dutzend Straftaten innerhalb eines Jahres.
Manchmal vergehen zwischen der Entlassung aus dem Polizeigewahrsam und dem nächsten Delikt nur Stunden. So wird Kerras am 8. Juli 2023 ertappt, wie er ein Smartphone, Kopfhörer und Bargeld aus einem Lieferwagen stiehlt. Bis am 9. Juli um 13 Uhr 30 hält ihn die Polizei fest. Doch schon am Abend des nächsten Tages klaut Kerras einen E-Scooter, indem er das Bügelschloss aufbricht. Kurz nach Mitternacht wird er von der Polizei erneut angehalten.
Ein Raub mit einem Schweizer Taschenmesser
Den meisten Delinquenten sei sehr wohl bewusst, dass sie in der Schweiz keine Zukunft hätten, sagt der Maghreb-Experte Beat Stauffer. Bevor sie irgendwann ausgeschafft würden, versuchten sie deshalb so viel hereinzuholen wie möglich, oft ohne Furcht vor den Konsequenzen. Härte sind sie aus der Heimat gewohnt. Eine Festnahme durch Schweizer Polizisten oder eine Nacht in der Zelle stellt für sie kein ernsthaftes Problem dar.
Auch Kerras begeht seine Delikte anscheinend ohne Reue und ohne Angst. Nicht weniger als sechs Mal wird er von der Polizei in den Jahren 2022 und 2023 auf den Posten gebracht oder vorläufig festgenommen. Länger als 48 Stunden bleibt er niemals in Haft. Es ist wie eine Endlosschlaufe auf der Schattenseite des Lebens. Bis Adil Kerras am 7. September 2023 eine Grenze überschreitet.
An jenem Abend zieht er mit einem Bekannten durch die Stadt. Doch die Stimmung kippt, und plötzlich raubt er seinen Kumpel «mit einem Schweizer Taschenmesser» (so die Anklageschrift) aus. Das führt schliesslich zur siebten Festnahme – und zur vorläufigen Endstation im Gefängnis auf dem Bässlergut. Für Kerras sei dies vermutlich Fluch und Segen zugleich, schreibt sein Pflichtverteidiger auf Anfrage: «Ohne die Inhaftierung wäre er heute vermutlich in gesundheitlich weit schlechterem Zustand. Seine Freiheit ist ihm aber genommen.»
Wie viele Delikte Kerras bei seinem Prozess im Mai vor dem Basler Strafgericht wirklich nachgewiesen werden können, ist offen. Und genaugenommen ist es auch egal: Seine Lebensperspektive bleibt elend. Es wird mit einer Freiheitsstrafe und anschliessendem Landesverweis enden. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Kerras nach Verbüssung der Strafe nach Algerien ausgeschafft wird, im besten Fall mit etwas Rückkehrhilfe. Einer von vielen, die in der Stadt seit Monaten für Ärger und Verunsicherung sorgen.
Adil Kerras, Mohammed Said, Sid Driss oder Abdelkarim Brahimi – sie sind zufällig ausgewählte Beispiele für eine Kriminalitätsform, die gerade der ganzen Schweiz zu schaffen macht. Beat Stauffer ist überzeugt: Ohne Härte geht es nicht. «Sie müssen die Strafe zu spüren bekommen.» Und er fordert einen anderen Umgang mit irregulären Migranten, die keine Chancen auf Asyl hätten. Nichts ist dagegen einzuwenden – und doch hinterlassen die düsteren Geschichten aus Basel vor allem: Ohnmacht und Trostlosigkeit.
* Namen geändert