Spasski wurde ausgerechnet durch die Niederlage gegen den Amerikaner Bobby Fischer berühmt. Das WM-Duell von 1972 stand symbolhaft für den Kalten Krieg der Grossmächte. Spasski war wohl zu wenig verbissen, zu sehr Kavalier.
Vor 53 Jahren, als der Schachsport mit der Weltmeisterschaft in Reykjavik unerwartet in den medialen Fokus geriet, gehörte der Russe Boris Spasski zu den Hauptfiguren des spektakulären Duells am Brett. Die Affiche lautete: USA gegen Sowjetunion, Freiheit gegen Kommunismus, West gegen Ost, Gut gegen Böse.
Der sogenannte «Wettkampf des Jahrhunderts» von 1972 bediente in der Phantasie des Publikums nicht nur alle Vorstellungen des Kalten Krieges, sondern auch das Muster vom unerschrockenen amerikanischen Einzelkämpfer Bobby Fischer, der sich mit einem ganzen System anlegt. Und dieses war in Islands Hauptstadt eben durch Spasski vertreten.
Das Bild war natürlich überzeichnet. Der Egomane Fischer war zweifellos ein Genie, das unter schwierigen Umständen Unfassbares leistete. Aber mit seiner gestörten Persönlichkeit, die in späteren Jahren immer deutlicher zutage trat, eignete er sich nur bedingt als Projektionsfläche der «Guten». So wenig der Amerikaner Rocky Balboa glich, so wenig hatte Spasski mit Ivan Drago gemeinsam, will man Parallelen zu einem berühmten Boxfilm bemühen.
Er durfte zuerst nicht mehr ins Ausland – und dann doch nach Frankreich emigrieren
Spasski repräsentierte die berühmte sowjetische Schachschule, die vor Reykjavik seit 1948 ununterbrochen den Weltmeister gestellt hatte, die nach Belieben die internationalen Wettbewerbe dominierte und deren Hegemonie im Lande Lenins eine kulturpolitische Selbstverständlichkeit geworden war. Entsprechend standen Spasski alle Ressourcen für das WM-Duell mit Fischer zur Verfügung.
Gleichzeitig hatte Spasski schier unvorstellbare Erwartungen zu schultern – eine Niederlage gegen den amerikanischen Emporkömmling wäre eine blamable Niederlage für sein Riesenreich. Bekanntlich half Spasski am Ende weder das eine noch das andere. Obwohl er mit zwei Siegen gestartet war, unterlag er dem brillanten Fischer mit 8,5 zu 12,5 Punkten.
Nachdem er den so wichtigen Titel an den Erzfeind der Sowjets verloren hatte, traf Spasski der Bann des eigenen Systems. Er sei zu faul gewesen, habe die Ratschläge seiner Kollegen nicht befolgt und Schande über sein Land gebracht, befanden die Oberen seines Verbands. Dass in der Person von Fischer ein verhasster Amerikaner, noch dazu ein Autodidakt, besser sein konnte als der Anführer der über Jahrzehnte perfektionierten Sowjet-Macht durfte aus ihrer Sicht nicht wahr sein. Neun Monate lang durfte Spasski daraufhin an keinem Turnier im Ausland teilnehmen.
Es war indes allzu klar, dass Fischer einfach besser war. So wurde Spasskis Bestrafung bald gemildert, 1976 wurde ihm sogar die Emigration nach Frankreich erlaubt.
Als er gefragt wurde, wie er zum Schachspiel gekommen sei, antwortete er lapidar: «barfuss»
So wenig Spasski der prototypische «Systemvertreter» war, so wenig wird ihm eine Schwarz-Weiss-Betrachtung auch sonst gerecht. Wenn überhaupt, so war er der Meister des goldenen Mittelwegs.
In ärmsten Verhältnissen in Leningrad aufgewachsen, wurde er als Fünfjähriger im Zweiten Weltkrieg rechtzeitig evakuiert, um der grausamen Belagerung zu entgehen. Er litt dennoch Hunger und lebte vorübergehend im Waisenhaus. Noch vor Kriegsende verliess der Vater die Mutter, welche die drei Kinder nur knapp über die Runden brachte. Als Spasski später gefragt wurde, wie er denn zum Schachspiel gekommen sei, antwortete er lapidar: «barfuss».
Von seiner reinrussigen Abstammung hat er dennoch profitiert; später blieb ihm so manch unsichtbares Hindernis erspart, das ähnlich talentierten Altersgenossen, die jüdische Vorfahren hatten oder ethnischen Minderheiten entstammten, den Weg nach oben versperrte.
Auch hatte Spasski das richtige Mass an Verbindungen zum Parteiapparat; zum Beispiel Freunde, die ihm helfen konnten, aber nicht zu mächtige und zu enge Freunde, bei deren Fall er selber gefährdet gewesen wäre. Sein Spielstil war aktiv und unternehmungslustig, aber er war kein Hasardeur wie etwa einer seiner Vorgänger als Weltmeister, Michail Tal.
Spasskis riesiges Potenzial im Schach wurde mit 15 Jahren ersichtlich, er war der jüngste Meister und später der jüngste Grossmeister der Welt. Zunächst verlief seine Karriere jedoch wenig geradlinig. Sein Talent befand sich in Konflikt mit seiner Lebensfreude. Er interessierte sich für Kultur, Frauen, Alkohol, und nur bedingt für harte Arbeit.
Spasski verglich sich mit einem russischen Bären – stark und gefährlich, doch im Innersten gemütlich und faul. Seiner jovialen Art verdankte er viele Freunde, die auch einmal ein Auge zudrückten, wenn er sich allzu freimütig und fern der kommunistischen Leitlinie geäussert hatte.
Er drängte auf Kompromisse
Glückliche Fügung brachte ihn mit hervorragenden Trainer- und Vaterfiguren zusammen, die ihm nicht nur halfen, einen universellen Spielstil zu kultivieren, sondern auch als Persönlichkeit zu reifen, so dass er 1966 erstmals den anspruchsvollen WM-Qualifikationszyklus gewinnen konnte. In jenem WM-Duell unterlag er allerdings dem Titelverteidiger Tigran Petrosjan. Nachdem er im nächsten Dreijahresturnus wieder obenauf geschwungen hatte, gelang Spasski der Titelgewinn dank erfolgreicher Revanche an Petrosjan.
Eine neue Ära zu begründen, vermochte Spasski nicht. Dafür war sein nächster Gegner, Bobby Fischer, zu stark und er zu wenig verbissen und zu sehr Kavalier.
In der WM-Vorbereitung habe Spasski lieber Tennis gespielt, als Schacheröffnungen zu büffeln, und als er es in der heissesten Phase des Wettkampfs in der Hand hatte, mit einem sturen Bestehen auf den Verträgen den Amerikaner in die kampflose Niederlage zu treiben, war es Spasski höchstpersönlich, der aus Liebe zum Schach und aus Respekt vor dem Gegner auf Kompromisse drängte – Kompromisse, die den Wettkampf retteten und ihn letztlich den WM-Titel kosteten.
Am Donnerstag ist Boris Spasski, der zehnte Weltmeister der Schachgeschichte, im Alter von 88 Jahren in Moskau verstorben – gut 17 Jahre nach Bobby Fischer, der ihm vorangegangen war.