Der guten Pariser Gesellschaft war er nie ganz geheuer. Jetzt feiert das Musée d’Orsay den grossen amerikanischen Maler mit einer lange überfälligen Retrospektive.
Heutzutage würde man die beiden als Aussteiger und Expats bezeichnen. Und es ist rätselhaft, wieso ihre Odyssee noch nicht verfilmt wurde: 1854 verliessen der amerikanische Augenchirurg Fitzwilliam Sargent und seine Frau Mary Newbold Singer ihre Heimatstadt Philadelphia und überquerten den Atlantik in Richtung Liverpool.
Sie reisten dann durch Frankreich nach Italien, und was zunächst nur eine Weile der Erholung dienen sollte, wurde ungeachtet relativ bescheidener Ressourcen zum Dauerzustand. In Europa wechselten sie lange mehrmals jährlich den Ort und kehrten schliesslich nie wieder in die Vereinigten Staaten zurück.
Sie weilten in Florenz, als 1856 ihr Sohn John geboren wurde. Heute gilt John Singer Sargent als ein herausragender amerikanischer Maler. Das Land seiner Eltern aber bereiste er erst in späteren Jahren. Ihn prägten vielmehr Leben und Kultur in Italien, Frankreich und England, wo er sich 1886 niederliess. Bis zu seinem Tod 1925 lebte er in London.
Ihrer ungewöhnlichen Vita entsprechend und anders als andere Eltern hatten Sargent und Singer erst gar nicht versucht, ihrem Sohn das Zeichnen und Malen auszureden, für das er früh eine Leidenschaft entwickelte. Im Gegenteil förderten sie sein Talent und setzten alles daran, ihm schon in sehr jungen Jahren einen künstlerischen Werdegang angedeihen zu lassen.
In Rom vermittelten sie ihm einen deutschen, an der Düsseldorfer Akademie, aber auch in Paris ausgebildeten Landschaftsmaler und andere Lehrmeister. Offenbar klopften sie auch in Dresden an. Entscheidend wurde aber der Entschluss, seiner Zukunft zuliebe 1874 nach Paris zu ziehen und ihn dort Charles Carolus-Duran vorzustellen, der als ein führender Porträtmaler galt und bei Ausstellungen des Salons grossen Erfolg hatte. Mit achtzehn Jahren trat John Singer Sargent in dessen private Akademie ein und begann, von sich reden zu machen.
Die zwölf Jahre, die der Maler in Paris verbrachte, stehen jetzt im Mittelpunkt einer Ausstellung des Musée d’Orsay. Die Schau «John Singer Sargent – Éblouir Paris» war zuvor, im letzten Sommer, im Metropolitan Museum of Art in New York zu sehen. Mit gut 90 Werken verfolgt sie den kometenhaften Aufstieg des Malers, der die französische Kunstmetropole in Erstaunen versetzte, bis zum Skandal um ein laszives Frauenporträt, der dazu beitrug, dass sich der Künstler in London niederliess.
Die Pariser Zeit fällt mit den Jahren der berühmten acht Impressionismus-Gruppenausstellungen 1874–1886 zusammen, an deren Ende Georges Seurat und Paul Signac das Pointillieren und den Neoimpressionismus propagierten. Singer Sargent nahm diese Entwicklungen wahr, machte sie sich aber nicht zu eigen. Allenfalls impressionistisch malte er nur punktuell. Und ihn interessierten auch kaum Motive in der Stadt oder ihrer Umgebung, wie sie damals von so vielen anderen gemalt wurden. Er unternahm lieber Reisen in den ihm vertrauten Mittelmeerraum bis nach Capri, Tunis und Tanger.
Profil gewann John Singer Sargent aber eher als ein Porträtist der Aristokratie und des gehobenen Bürgertums. Sein kraftvoller und eleganter Pinselstrich galt als virtuos, gleichgültig, ob er Männer, Frauen, Kinder oder Grössen wie Gabriel Fauré und Auguste Rodin malte. Lichtgestalt war ihm der spanische Maler des 17. Jahrhunderts Diego Velázquez. Vielleicht war es dieses Vorbild, das mithalf, ihn davon abzuhalten, ins Süssliche abzurutschen.
Porträtist einer mondänen Welt
John Singer Sargent hatte allerdings auch ein Bewusstsein dafür, sich neueren Errungenschaften nicht anzubiedern, sondern seinem Temperament und seinem Interesse an einem zeitgemässen Naturalismus treu zu bleiben. Singer Sargent nahm regelmässig am Pariser Salon teil, der in jenen Jahren jährlich im Palais de l’Industrie an der Avenue des Champs-Élysées stattfand, einem Vorgängerbau des Ensembles von Petit Palais und Grand Palais. Hier zeigte er auf Reisen und im Atelier Entstandenes, das durch perfekte Beherrschung seiner Mittel und Sensualität auffiel, aber auch Provokation offenbarte.
Um Unliebsamkeiten in der Seine-Metropole zu umschiffen, liess er nicht dort, sondern in London und Brüssel das lebensgrosse Porträt eines jungen bärtigen Mannes in häuslicher Intimität ausstellen. Es zeigt den Pariser Chirurgen und Pionier der Gynäkologie Samuel Pozzi 1881 im roten Morgenmantel. Pozzi galt als Ästhet und Sammler, aber auch als Verführer.
1884 bewies Singer Sargent mehr Mut gegenüber Pariser Gepflogenheiten und stellte sich auf Gegenwind ein. Dennoch überraschte ihn die heftige Ablehnung, auf die er mit einem Porträt der als hinreissend schön bekannten Virginie Gautreau stiess, das er erfolgreich beim Salon eingereicht hatte.
Das lebensgrosse Bildnis gibt die in die mondäne Pariser Gesellschaft aufgestiegene Amerikanerin aus New Orleans vor einem dunkeltonigen Hintergrund im Profil wieder. Sie steht an einem Tischchen, auf das sie sich mit einer Hand aufstützt; ihr schwarzes Kleid und ihre dunkelrötlichen Haare kontrastieren ebenfalls kaum mit der Umgebung.
Zum Leuchten brachte der Maler dagegen ihre blasse, ja kreidebleiche Haut. Die damals Fünfundzwanzigjährige schaut zur Seite und wirkt souverän; sie ist stark gepudert, und unter dem Bogen einer markant nachgezogenen Augenbraue ist ihr Blick nicht zu erfassen.
Im lebenslustigen, aber von Etikette geprägten Paris wurde das Gemälde als unschickliche Darstellung einer Femme fatale verstanden, wie man ihr diskret inkognito begegnen, sie aber in besseren Kreisen nicht vor aller Augen zeigen konnte. Den Ausschlag für den Skandal, den das Bildnis auslöste, gaben das Hochmut bis zur Nasenspitze evozierende Profil, ihre entblösste Schulter, das grosszügige Décolleté und ein aus Silberfäden und Perlen bestehender, an den Oberarm zur Seite verrutschter Träger des Kleides.
Heute präsentiert sich das Bildnis, das Singer Sargent später für sein bestes Werk hielt, korrigiert. Der Künstler überarbeitete die Stelle mit dem unziemlichen Kleidträger. Auch bezeichnete er das Bildnis neu als «Portrait de Madame X», um die Dargestellte nicht länger mit dem Raunen zu belasten, das es hervorgerufen hatte.
Genialer Kolorist
Die Entscheidung, sein Pariser Dasein aufzugeben, weil ihn das gesellschaftliche Klima anstrengte, und sich in London niederzulassen, machte der Maler nicht rückgängig. Er behielt aber Verbindungen, etwa zu Claude Monet, mit dem er sich gut verstand. Oder indem er 1890 aktiv die Initiative unterstützte, Édouard Manets «Olympia» für die staatlichen französischen Kunstsammlungen zu erwerben. Singer Sargent spendete Geld für den Ankauf und mobilisierte Mäzene.
Umgekehrt hinderte sein Wegzug die französischen Behörden nicht daran, 1892 sein Porträt einer Tänzerin, «La Carmencita», für das damalige Museum moderner Kunst, das Musée du Luxembourg, anzukaufen – Ausdruck einer Ehre, die wenigen ausländischen Künstlern zuerkannt wurde. Die jetzt eingerichtete Retrospektive war überfällig. In dieser ersten Pariser Schau zu entdecken ist vor allem auch ein verblüffender Lichtregisseur und Kolorist.
«John Singer Sargent – Éblouir Paris», Musée d’Orsay, Paris, bis 11. Januar 2026. Katalog: 45 Euro.








