John Martins Markenzeichen waren Weltuntergänge. Damit war er der Star der Massen. Heute sind diese Endzeitbilder der englischen Romantik wieder aktuell.
Kriege, Klimawandel und die Gefahr einer nuklearen Eskalation. In der Folge kollabierende Staaten, Hungersnöte, unbewohnbar werdende Erdteile und Millionen Menschen auf der Flucht – solche Szenarien sind «Heuschreckenplagen» wahrlich biblischen Ausmasses. Und John Martin wäre begeistert. Der englische Maler der Apokalypse, lange in Vergessenheit geraten, ist gerade wieder der Mann der Stunde. Der Tanz auf dem Vulkan, die Menschheit am Abgrund: Das ist der Stoff, aus dem seine Gemälde sind.
Für sein phantastisch-dystopisches Werk gab ihm seine eigene turbulente Zeit reichlich Nahrung. Das 19. Jahrhundert war eine Epoche des Umbruchs. An der Schwelle zur Moderne versank die alte Welt im Mahlstrom von industrieller Revolution und neuer Massenkultur. Die Zeit war geprägt von rasanter wirtschaftlicher Expansion und damit einhergehenden Wirtschaftskrisen, sozialen Unruhen und kriegerischen Konflikten.
Selbst das Klima spielte verrückt. Als Lord Byron mit seinen Freunden am Genfersee den Sommer 1816 verbrachte, war das Trüppchen durch Kälte und Dauerregen zum Schreiben verdammt. Grund für die Untergangsstimmung der poetischen Freigeister war der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien. In der Folge kam es zu globalen Klimaveränderungen, die Europa das «Jahr ohne Sommer» bescherten und zur schlimmsten Hungersnot des 19. Jahrhunderts führten.
Der verregnete Genfer Sommernachtstraum wurde zur Geburtsstunde von Byrons «Dunkelheit» und John Polidoris «Der Vampir». Und obendrein von Mary Shelleys «Frankenstein». Dessen Botschaft ist klar: Ein Exzess von Wissenschaft und Technologie ohne ethische Schranken führt direkt in die Katastrophe.
Die damalige Zeitenwende beschwor Ängste herauf. Die politischen und sozialen Umwälzungen galten vielen als Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. Religiöse Fanatiker hatten Konjunktur. Selbsternannte Propheten verkündeten das Weltende.
Solche Schreckensszenarien verlangten nach bildlicher Vergegenwärtigung. Und einer, der sich dafür zur Stelle meldete, war der in Northumberland in einem kleinen Dorf an der Grenze zu Schottland geborene John Martin. Der bald schon erfolgreiche Katastrophenmaler erblickte das Licht der Welt ausgerechnet im geschichtsträchtigen Jahr 1789 – inmitten der tumultuösen Zeit, als auf dem europäischen Festland die Französische Revolution die Welt umkrempelte.
Markenzeichen Zickzackblitz
Nicht verwunderlich, wurde aus John Martin ein Maler von Himmel und Hölle. Er galt als visionär und exzentrisch. Und war ebenso populär wie umstritten. Seine Gemälde und Grafiken verorten ihn fest in der Malerei des apokalyptischen Erhabenen. Wie kein anderer hat er dieses Genre geprägt, dessen Einfluss sich bis ins Kino unserer Zeit erstreckt. Mit seiner Kunst bediente er die Erwartungen seiner eigenen Zeit. Sein Erfolgsrezept: der Weltuntergang.
Dafür brauchte sich Martin nur bei der Bibel zu bedienen. Die Apokalypse als biblische Offenbarung: Diese Bilder der tobenden Elemente, der herabstürzenden Himmel, der über das Land rollenden Wassermassen und alles versengenden Feuersbrünste, sie waren kulturell tief eingeprägt. In seinen eigenen Bildern musste er sie lediglich abrufen.
Geeignete Motive fand er im Fall Babylons ebenso wie in den sieben Plagen, mit welchen Gott die Ägypter heimsuchte. In seiner «Sintflut» lässt der Maler den Tsunami zu einer einzigen Masse von Himmel und Wasser verschmelzen, die den Betrachter förmlich ins Bild hineinsaugt. Wie eine riesige Hand Gottes rast dieser Strudel auf sein traumatisiertes Publikum zu, um im nächsten Augenblick das klägliche Grüppchen von Menschen auf einem Felsvorsprung am unteren Bildrand zu zermalmen.
Das ist Action-Kino avant la lettre. Und Martins Markenzeichen war der Zickzackblitz. Wie ein Riss in der Leinwand durchzuckt er auch das finstere Firmament in dem lichterloh brennenden Bild der «Zerstörung von Sodom und Gomorra». Im tiefroten Inferno eines gewaltigen Erdbebens lässt Martin vor unseren Augen ganze Städte ins Tote Meer kollabieren.
Verführungskunst mit Unterhaltungswert
Apokalypsen sind Erzählungen von den letzten Dingen. Und das grosse Ende hat immer dann Konjunktur, wenn die Zeiten besonders chaotisch scheinen. Der schaudernde Blick in den Abgrund ist bisweilen einfacher zu ertragen als die Konfrontation mit den realen Konflikten.
Am Untergang ergötzt man sich heute vom bequemen Kinosessel aus. Oder exerziert Armageddon an der Spielkonsole zu Hause im gemütlichen Wohnzimmer durch. Katastrophenfilme und Endzeit-Videospiele haben ihr eigenes Genre. Und «Doomscrolling» heisst das lustvolle Sichten von Nachrichten im Netz, die erklären, wie schrecklich es um die Welt bestellt ist. Denn gibt es etwas Verführerischeres als die Erzählung vom Ende der Welt?
Das hatte auch John Martin erkannt. Er wusste, dass man «Apocalypse Now» am besten aus sicherer Entfernung geniesst. Mit seinen Bildern schuf er die nötige Distanz dafür. So setzte er bewusst auf die technischen Effekte der zeitgenössischen Unterhaltungskultur von damals. Das Gastmahl des Belsazar, dem eine geheimnisvolle Schrift, das Menetekel, an der Wand seinen Tod und den Untergang seines Reichs prophezeit, malte er als halluzinierende Phantasmagorie in sublimem Kinoformat.
Seine Weltuntergänge hatten höchsten Unterhaltungswert. Und Martin stellte sie bevorzugt in öffentlichen Sälen aus. Es war die Zeit der Weltausstellungen, der Music-Halls und Dioramen als Vorläufer des Kinos. Martin suchte dasselbe Publikum, das vor den populären Panorama-Inszenierungen Schlange stand, wissend um die Macht der Massen. Seine Werke, das war Kunst im öffentlichen Raum.
John Martin war ein Maler des Volkes. Die Mittelschicht fand zusehends Gefallen an einer Malerei des authentischen Gefühls. Und die breite Bevölkerung wollte Unterhaltung. Sein berühmter Malerkollege John Constable bezeichnete Martin als «Maler der Pantomimen». Er war zweifellos ein Showman der theatralisch-heroischen Art von Malerei.
Vielen galt Martin aber mehr als einen Tick zu frivol. Seine Kunst – nicht mehr als eine verrückte Phantasie, eine psychologische Kuriosität, Ausgeburt eines aus dem Gleichgewicht geratenen Geistes. Bestenfalls das Machwerk eines Zauberkünstlers oder Scharlatans, wie Barbara C. Morden in ihrer Künstlerbiografie schreibt.
Martins Visionen entsprachen eben nicht den klassischen Idealen, sondern der Sensibilität seiner Zeit. Seine Figuren standen nicht für die heroische Würde des menschlichen Geistes, sondern für die Nichtigkeit der Menschen angesichts irrationaler Kräfte eines als schicksalhaft empfundenen Zeitgeschehens.
In den Augen der protestantisch-bilderfeindlichen Kulturhüter des viktorianischen Grossbritannien war Martin ein Volksverführer. Seine Kunst galt als aufrührerisch und schädlich für die Nation. Martin, der Ketzer des guten Geschmacks: Sein Genie konnte nur das Resultat eines Pakts mit dem Teufel sein.
Für das Establishment trieb es «Mad Martin» – der wahnsinnige Martin, so sein Spitzname – ohnehin zu weit. Er wurde dafür verurteilt, nicht den Verstand, sondern nur das Auge anzusprechen. Zu theatralisch, zu originell war das, was Martin auf die Leinwand brachte. Seine als effekthascherisch gebrandmarkte Malerei sprach den Konventionen der Kunstakademien Hohn. Was er bot, war ein Affront für die klassische Hochkunst der Eliten.
Als John Martin starb, war die Aufregung um ihn bald auch wieder abgeebbt. Mit der Industrialisierung obsiegte der Fortschrittsglaube. Seine finsteren Schwärmereien für einstürzende Welten waren nicht mehr länger gefragt. Vollends ins Vergessen geraten war er Anfang des 20. Jahrhunderts. Seine Werke wanderten in die Katakomben der Museen.
Aus dieser Unterwelt kroch John Martins apokalyptischer Geist erst wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts empor. In den 1970er Jahren gelangten einige seiner wichtigsten Werke an die Tate Britain. Es folgten Ausstellungen in England und Spanien. Seitdem ist Matin wieder ein aufsteigender Stern.
Denn es ist wie mit jeder Apokalypse: Es gibt immer einen «Tag danach». Bei John Martin trägt «The Day After» den Titel «The Last Man». Es ist eines seiner letzten Gemälde und zeigt den letzten Menschen in einer gänzlich entvölkerten Welt.
Auf einem Felsplateau im Vordergrund steht wie auf einer Bühne ein Mann und überblickt die immense Grabstätte einer Stadt. John Martins Zeitgenossin, die englische Schriftstellerin Charlotte Brontë, beschrieb dieses Werk in einem Brief als «grandioses, wundervolles Bild mit der untergehenden roten Sonne am Horizont und einem mit Knochen und Schädeln übersäten Feld».
Sollten vor diesem Werk einst Überlebende des Weltuntergangs stehen, werden sie wohl bewundernd anerkennen müssen: Dieser Maler hatte alles vorausgesehen.