Häberli hat als Fussballer und als Coach Geduld beweisen müssen, er wurde lange unterschätzt. Besonders schmerzhaft war die Ausbootung für die Heim-EM 2008. Dennoch ist er in Bern zur Legende geworden, der die Band Züri West sogar ein Konzert gewidmet hat.
Als Thomas Häberli im Juni als Trainer von Servette präsentiert wurde, entstand bei einigen Beobachtern der Eindruck: Der Sportchef René Weiler, dominante Figur im Klub, habe eine Marionette angestellt, die er nach Belieben führen könne. Weiler war bei Servette davor als Trainer sehr erfolgreich gewesen; er hatte die Genfer in der letzten Saison zum Cup-Sieg und damit zum ersten Titel seit 23 Jahren geführt.
Letzte Woche schrieb die «Tribune de Genève» anerkennend, Thomas Häberli sei zwar im Auftreten zurückhaltender, aber alles andere als eine Puppe Weilers. Da würden hinter der Fassade zwei Männer mit komplexen Persönlichkeiten stecken, deren Beziehung viel facettenreicher sei als die eines Meisters zu seinem hörigen Schüler.
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— Servette FC (@ServetteFC) June 2, 2024
Der Traum vom Profifussballer war eigentlich vorbei
Thomas Häberli sitzt in einem Café im Einkaufszentrum La Praille neben dem Stade de Genève und erzählt von seinem neuen Leben. Er trägt einen Trainingsanzug über der sportlichen, schlanken Statur, das Haar ist schütterer geworden, im Frühling wurde er 50.
Am Samstagabend empfängt Servette den FC Zürich zum Spitzenkampf. Und Häberli sagt: «Wir sind solid unterwegs, aber noch nicht so konstant, wie wir uns das vorstellen.» Es gab grosse Siege wie das 3:1 beim FCZ vor zwei Wochen, aber auch ein 0:6 zu Hause gegen Basel oder die Cup-Niederlage beim Challenge-League-Verein Schaffhausen. In der Europacup-Qualifikationsphase scheiterte Servette knapp gegen die deutlich höher eingestuften Teams Braga und Chelsea; die prominenten Engländer mussten in Genf vor 28 000 Zuschauern gar ums Weiterkommen in die Conference League zittern, weil sie das Rückspiel 1:2 verloren.
Der Trainer Häberli bezwingt den Premier-League-Giganten Chelsea – das hätte ihm vor ein paar Jahren kaum jemand zugetraut. Häberli ist in seiner Karriere oft unterschätzt worden, er ist ja auch nicht der typische Fussballer und Trainer.
Als Bub wusste der Bauernsohn aus Ballwil vor allem, was er nicht werden wollte: Bauer. Auch, weil er nicht jeden Tag um 4 Uhr aufstehen wollte. Fussball war Häberlis Leidenschaft; die Juniorenzeit verbrachte er primär im Provinzverein FC Hochdorf.
Mit 20 wechselte er in den Nachwuchs von Lausanne-Sports, aber ihn plagten Rückenschmerzen. Schon damals zeichneten ihn besondere Charakterzüge aus, Häberli sagt: «Ich bin kein Einfacher und habe einen sehr eigenen Kopf, wenn es sein muss.» Eine Aussage, die aufgrund seines anständigen Auftretens widersprüchlich erscheinen mag. Jedenfalls forderten die Verantwortlichen von Lausanne-Sports damals eine Rückenoperation, was Häberli kategorisch ablehnte. Und er entschied sich, den Traum vom Profifussballer zu begraben.
Dann arbeitete er bei einer Krankenkasse und spielte wieder im Amateurbereich Fussball, zwei Jahre in Hochdorf, zwei Jahre in Schötz. Mit 25 wechselte er zum SC Kriens, immerhin Nationalliga B, aber abseits des Rasens jobbte er weiter als Vollzeitangestellter. Er sah, wie Fabio Celestini, Léonard Thurre und Badile Lubamba, ehemalige Mitspieler im Lausanne-Nachwuchs, Schweizer Nationalspieler wurden. Und dachte sich, weil die Rückenschmerzen nach fünf Jahren verschwunden waren: «Wenn die das schaffen, kann ich das auch.»
Dem SC Kriens hatte er sich 1999 selbst angeboten, einen Berater hat er bis heute nicht. Nach einer überzeugenden Vorrunde in Kriens war Häberli dann zum aufstrebenden FC Basel mit dem Trainer Christian Gross gewechselt. Aber dieser Sprung war zu gross, Häberlis Körper hielt den Belastungen des Profilebens zunächst nicht stand.
«Zum Glück gab es noch keine Smartphones»
Im Sommer 2000 folgte ein Schritt zurück – zu YB in die Nationalliga B, zu einem schlafenden Riesen. Und in Bern stieg Häberli zu einem der beliebtesten Fussballer der Vereinsgeschichte auf. Der Klub schaffte es bis an die Spitze der Super League. Häberlis YB-Bilanz nach neun Jahren: 74 Tore, zweimal Zweiter, zwei verlorene Cup-Finals, 1001 Geschichten.
2008 trat die Band Züri West zum 110. Geburtstag von YB im Wankdorf als «The Häberlis» auf. Unvergessen, wie der Stürmer neben dem wunderbaren Sänger Kuno Lauener vor 25 000 Menschen auf die Bühne trat, ein wenig ungelenk und «tierisch nervös», wie er sagt, aber versorgt mit genug Alkohol, um den mutigen Entertainer zu geben. «Zum Glück gab es noch keine Smartphones», sagt Häberli heute.
Der YB-Fan Lauener antwortete auf die Frage, warum seine Band nicht als «The Yakins» aufgetreten sei, weil Hakan Yakin damals der Star des Teams war: «Häbi ist einfach ein geiler Siech. Er ist keine Diva, sondern ein Chrampfer, schiesst viele Öfen.» Häberli erhielt ein Jahr später als erster YB-Spieler in der Klubhistorie sogar ein Abschiedsspiel. Er kam als Nobody nach Bern – und ging als Legende.
Er wanderte aus, um Nationaltrainer in Estland zu werden
Und das mit dem Nationalteam hat Häberli auch geschafft, es reichte immerhin für eine Viertelstunde Ruhm und Ehre. 2004 wurde er beim 6:0-Sieg gegen die Färöer in der 74. Minute für Alexandre Rey eingewechselt und hätte beinahe «einen Ofen geschossen». Vier Jahre später wurde er vom Nationaltrainer Köbi Kuhn nach einer überragenden Saison mit 33 Skorerpunkten (18 Tore, 15 Assists) ins vorläufige Kader für die Heim-EM aufgeboten, aber als letzter Spieler im Trainingscamp im Tessin aussortiert. Das sei schmerzhaft gewesen, sagt Häberli, doch er habe gelernt, mit Rückschlägen umzugehen.
Wie mit jenem ein Jahr später, als er gerne noch weitergespielt hätte, der YB-Trainer Vladimir Petkovic hingegen keine Verwendung mehr für den 35-Jährigen hatte. Häberlis Vertrag wäre noch eine Saison weitergelaufen, ein Wechsel kam jedoch nicht infrage, also beendete er seine Spielerkarriere – und begann jene als Trainer. Mit Bedacht, wie es seine Art ist, bei YB im Nachwuchs, als Scout und als Stürmercoach, gleichzeitig wirkte er bei Perlen-Buchrain in der 3. Liga als Spielertrainer.
Thomas Häberli ist in seinem Leben einige Umwege gegangen und bewegte sich oft im Hintergrund, auch als Trainer. Als er dann 2019 im FC Luzern die Chance in der Super League erhielt, wurde er nach zehn Monaten und einem unwürdigen Schauspiel entlassen.
Häberli öffnete bei der Suche nach etwas Neuem den Fächer. Er knüpfte Kontakte nach Estland, zog mit der Familie in die Hauptstadt Tallinn, unterstützte den dortigen Fussballverband als Berater und wurde 2021 Nationaltrainer. Er gewann mit dem Underdog zehn Länderspiele. Im Frühling 2024 verlor Estland in der EM-Qualifikation das Play-off gegen Polen, am 4. Juni folgte Häberlis letztes Länderspiel, eine 0:4-Niederlage gegen die Schweiz – ausgerechnet in Luzern. Am Tag darauf sass er in Genf René Weiler in einem Vorstellungsgespräch gegenüber – und erhielt den Zuschlag als Servette-Trainer.
Es gibt einen Traum, der ihn antreibt
Das Gespräch mit Häberli ist lebendig, bald sind fast zwei Stunden vorbei, das Training wartet. Er sagt: «Als Trainer braucht es Demut, man muss Leistungen und Erfolg trennen können. Es kann blöd laufen. Man muss damit rechnen, entlassen zu werden, obwohl man gute Arbeit geleistet hat.» Häberli möchte Teil des Dramas sein, aber nicht für ein Drama sorgen – und die Spieler weiterentwickeln.
In Genf ist ihm das sogar mit dem 34-jährigen Miroslav Stevanovic gelungen, seit Jahren einer der feinsten Fussballer der Liga, der unterdessen nicht nur am rechten Flügel zaubert, sondern auch im Zentrum. Und Dereck Kutesa steht dank elf Toren in dieser Saison vor dem Pflichtspiel-Debüt im Schweizer Nationalteam.
Für Häberli sind Carlo Ancelotti von Real Madrid und der ehemalige NBA-Coach Phil Jackson Vorbilder und Inspiration. Er sagt: «Am Ende geht es überall um den Umgang mit Menschen.» Häberli registriert im Umfeld von Servette Aufbruchstimmung, freut sich über viele Kinder in der Stadt, die Leibchen des Klubs trügen. Und weil diesem nicht so viel Geld zur Verfügung steht wie anderen, müssen bald mehr Fussballer aus der eigenen Academy den Durchbruch schaffen.
Vor der Saison galt Häberli bei manchen als jener Trainer, der als erster in der Liga den Job verlieren wird. Nun ist er auf bestem Weg, einmal mehr die Erwartungen zu übertreffen. Kürzlich war Servette erstmals nach zwanzig Jahren länger als zwei Stunden Leader – und es gibt einen Traum, der Häberli antreibt: Er möchte endlich einmal in seiner Karriere einen Titel gewinnen.